Filmkritik zu dem Oscar-Kandidaten „Poor Things“

Emma Stone und Mark Ruffalo in POOR THING
Emma Stone and Mark Ruffalo in POOR THINGS. Photo by Atsushi Nishijima. Courtesy of Searchlight Pictures. © 2023 20th Century Studios All Rights Reserved.

Die Kritik:

Wer das gegenwärtige Kino bezichtigt, frei von Originalität zu sein, der übersieht zwar ohnehin sehr viel, aber er kann sich zweifelsohne bei „Poor Things“ eines unmissverständlich Besseren belehren lassen. Yorgos Lanthimos, der griechische Regisseur hinter so eigenartig-sonderbaren Filmen wie „Dogtooth“, „The Lobster“ oder dem Oscar-gekrönten „The Favourite“ ist hiermit sein Meisterwerk und einer der besten Filme der letzten Jahre geglückt. Diese wohl sonderbarste Variante eines Coming-of-Age-Films berstet förmlich vor Kreativität und stellt eine zutiefst originäre und einzigartige Vision dar, die mal an Terry Gilliam, mal an Tim Burton oder auch an Luis Buñuel mit einer Prise „Freaks“ erinnert. Doch vor allem ist diese 141-minütige mit explizit grafischen Sex- und Ekelbildern ausgestattete Groteske dann eben ganz und gar ein unverkennbarer Lanthimos, der all seine Eigenarten noch nie so harmonisch und erfüllend in ein filmisches Ganzes gepackt hat. Kurz: diesen Film muss man gesehen haben.

Willem Dafoe
Willem Dafoe © 2023 20th Century Studios All Rights Reserved

Grundlage für „Poor Things“ ist der 1992 erschienene gleichnamige Roman des schottischen Autors Alasdair Gray, dessen Adaption schon lange ein Herzensprojekt für Lanthimos war. Das erscheint naheliegend, denn Grays schwarzhumorig-satirische Sensibilität ist keineswegs weit von dem eigenwilligen Weltbild des griechischen Ausnahmefilmemachers entfernt. „Poor Things“ entpuppt sich oberflächlich betrachtet als lupenreine postmoderne „Frankenstein“-Variation, die jedoch – wie von Lanthimos gewohnt – noch so viel mehr ist und ungeahnte Facetten offenbart.

Angelegt ist die Handlung des Films im viktorianischen England des 19. Jahrhunderts. Der durch grobe Narben entstellte und hochgradig renommierte Chirurg Godwin Baxter (Willem Dafoe) betreibt neben seinen Univorlesungen und chirurgischen Demonstrationen noch ein Nebenprojekt: So gelingt es ihm eine durch einen Selbstmord ums Leben gekommene junge Frau (Emma Stone) auf höchst absonderliche Weise (die hier nicht gespoilert werden soll) zu reanimieren. Mit dem Verstand eines Kleinkindes ausgestattet wächst die nun Bella Baxter getaufte Frau wohlbehütet auf dem sonderbaren Anwesen des genialen Wissenschaftlers auf. Bella ist ungestüm, unberechenbar und neugierig, ihr Sprachvermögen ist denkbar eingeschränkt, wächst aber stetig. Ihr ungezähmtes Wesen fasziniert auch den jungen Medizinstudenten Max McCandles (Ramy Youssef), der fortan mit Gideon gemeinsam die junge einzigartige Frau studiert. Bella mag zwar noch weitestgehend primitiv sein, doch mit der Anwesenheit von Max kommt es auch zu ihrem sexuellen Erwachen, auf das der gutmütige Max noch unbeholfen reagiert. Ganz anders ist es aber mit dem zwielichtigen und zügellosen Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo), der ihr Abenteuer jeder Art verspricht…

Emma Stone in Poor Things
Emma Stone © 2023 20th Century Studios All Rights Reserved

Wie von Lanthimos nicht anders zu erwarten, ist man in den ersten Minuten dieses ungeheuer bildgewaltigen und eigenartigen Märchens leicht überfordert: Die nun schon etwa aus „The Favourite“ bekannte, aber nochmal auf die Spitze getriebene Fischaugen-Ästhetik mit oft extrem weitwinklig-verzerrten Bildkompositionen (diesmal auch zunächst in grobkörnigem Schwarzweiß) ist das eine. Doch zudem ist diese vertraut historische Welt eben auch leicht verzerrt und irritierend andersartig. Das sind dann nicht nur die sonderbaren Hybridtiere wie eine Mops-Ente oder ein Schweinehuhn, die ganz selbstverständlich durch Baxters Stadthaus wandeln. Das ist auch die dissonante, schräg-verschrobene Musik von Jerskin Fendrix, die diese Bilder untermalen, sodass der Eindruck entsteht, dass das alles nicht so recht von dieser Welt stammt. Dieses opulent bebilderte Kuriositätenkabinett ist zwangsläufig sehr befremdlich, jedoch kann man auch einfach nur fasziniert von dieser surrealen Welt aufgesogen werden.

Dann ist da auch jede Menge Steampunk-Ästhetik, die sich vor allem im späteren, wesentlich farbenfroheren Verlauf dieses ästhetisch einzigartigen Films niederschlägt. Ganz selbstverständlich konfrontiert Lanthimos den Zuschauer auch mit dieser Welt, in der der sehr fragile Baxter permanent beispielsweise an einer mit einer lebenserhaltenden Flüssigkeit angeschlossen ist, durch die er nach dem Essen zwischendurch mal unter lautem Grölen eine riesige Blase aus seinem Mund entlässt, die nach ihrem Hochsteigen platzt. Doch mehr und mehr nimmt man diese Realität an und wird eben gebannt von der Odyssee einer unvergesslichen Hauptfigur in Form von Bella Baxter, die furios und meisterhaft in einer bemerkenswerten Tour-de-Force von Emma Stone dargestellt wird. Ein zweiter Oscar für diese sagenhafte und völlig furchtlose Darstellung sollte nahezu garantiert sein.

Szene aus Poor Things
Szene aus Poor Things © 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved

„Poor Things“ ist letztlich nicht nur ein bizarrer Bildungsroman, er ist auch eine der bemerkenswertesten und feinfühligsten Emanzipationgeschichten der letzten Jahre. So wird hier das Erwachen einer jungen Frau geschildert, die sich in einer zutiefst männlich dominierten Welt wiederfindet und dabei ihren Platz mit atemberaubendem Lebenshunger entdeckt und für sich behauptet. Hier ist dann auch die große Stärke des Films, denn all die skurrilen Dinge und die bizarre Ästhetik des Films ist kein reiner Selbstzweck, um möglichst schräg und anders zu sein, wie es bei so vielen anderen Filmen dieser Art der Fall ist. Lanthimos gelingt ein enorm harmonisches Gesamterlebnis, das eben ganz elementar auf menschlicher Ebene mitreißt, fasziniert und berührt. Der Film vermittelt zu jeder Zeit das Gefühl, dass hier alles möglich ist, dass man nie weiß, welche Finte er als nächstes schlägt. Man kann eigentlich nur angetan sein.

So ist „Poor Things“ dann eben ein enorm fokussiertes und sehr kurzweiliges Erlebnis, das in bemerkenswerter Klarheit die tragische wie triumphale Geschichte seiner außergewöhnlichen Protagonistin erzählt. Hier wird zunächst eine Frau gezeigt, die (fast als Reminiszenz an „Dogtooth“) in einer streng kontrollierten Umwelt unter einem – völlig zurecht – überfürsorglichen Vater aufwächst. Sie wird im Laufe des Films mit unterschiedlichsten Männerfiguren bzw. Stereotypen konfrontiert, zum einen der sicheren Nummer in Form des heiratswilligen Max, der Bella spürbar sensibel umgarnt und zumindest nicht offensichtlich an ihrer Ausbeutung interessiert ist. Dann ist da sein wilder Gegenpart Duncan, ein triebgesteuerter und geckenhafter Lebemann, der ihr die Welt öffnet und dabei alle erdenklichen sexuellen Fantasien ausleben lässt. Auf ihrer wilden Odyssee durch Europa lernt Bella in ihrer völlig ungefilterten Art die Männer, das Leben, aber auch sich selbst kennen, steht aber stets über allem und lässt sich nicht formen, wie es andere wohl beabsichtigen. Wie es Lanthimos und seinem Autor Tony McNamara gelingt, eine metaphorisch aufgeladene emanzipatorische und feministische Geschichte so geistreich und pointiert zu erzählen, ist absolut bemerkenswert und ein krasses Gegenbeispiel zu den eher direkten Methoden des dieses Jahr erschienenen „Barbie“.

Worte können diesen faszinierend ungebändigten Film in seiner scheinbar grenzenlos originellen und anarchisch wilden Vision kaum beschreiben. Wahnwitzige Dinge geschehen, die amüsieren, irritieren, aber nie abstoßen. Ein Genuss ist dann auch der Geistesreichtum des Films, der sich in einer hochgradig eigenwilligen sprachlichen Ebene niederschlägt. Man kann eigentlich nicht anders als sich von diesem Film einfangen und aufsaugen zu lassen.

Filmwertung
9/10

Kurzfassung

„Poor Things“ ist ein Film, den man gesehen haben muss – eine Glanzleistung, die zu den besten Filmen der letzten Jahre gezählt werden muss!

Fazit:

Yorgos Lanthimos ist mit „Poor Things“ sein Meisterwerk gelungen. Hier präsentiert sich ohne Übertreibung einer der originellsten Filme der letzten Jahre, der trotz aller visuell opulenter Wucht und ästhetischen Eigenarten nie überfrachtet wirkt. Stattdessen ist man hier einfach fasziniert, gebannt, amüsiert und schließlich auch berührt von einer enorm geistreich wie stimmig erzählten und zutiefst modernen Emanzipationsgeschichte. Angeführt wird dieser Film dann von einer alles überragenden Emma Stone, die ungeahntes Potential völlig entfesselt und mutig in einer bemerkenswerten Tour-de-Force auslebt.


von Florian Hoffmann

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