Waves – Filmkritik: Familiendrama mit Sogwirkung

Kelvin Harrison Jr. in Waves
Kelvin Harrison Jr. in Waves © Universal Pictures International Germany GmbH

Die Kritik:

Waves Filmplakat
Waves Filmplakat © 2019 Universal Pictures International Germany GmbH

Wer von den ersten, schwindelerregenden, nahezu panikschürenden Momenten von „Waves“ nicht gepackt wird, lässt sich wohl von gar nichts berühren. Beginnend mit einer sich immer wiederholenden 360 Grad-Drehung mitten in einem Auto auf einer Brücke in Florida zu Animal Collectives chaotisch-fröhlichem „Floridada“, packt Regisseur Trey Edward Shults den Zuschauer und lässt ihn nicht mehr los. Die enorm kinetische Kamera von Drew Daniels rast auch weiter dynamisch umher, begleitet von einem vibrierend-wummernden Klangteppich, wodurch man voll vereinnahmt wird. Die Farben sind intensiv, die auf Film gedrehten Bilder stark und texturiert, die Sinneseindrücke alles übermannend. „Waves“ ist insbesondere direkt am Anfang ein Rausch, ein Frontalanschlag auf die Sinne, nahezu körperlich spürbares Kino, das vor Unbändigkeit aus allen Nähten zu platzen droht. Hier wird die jugendliche Leichtigkeit und Lebenslust von Tyler (Kelvin Harrison Jr.) als intensiv-intime Erfahrung greifbar gemacht. Die flirrende Atmosphäre von Florida, das exzessive und unbekümmerte Partyleben, die leidenschaftliche Liebe zu seiner Freundin Alexis (Alexa Demie), seine Leidenschaft und sein alles einnehmender Ehrgeiz für das Ringen.

Doch in Tylers Leben ist nicht alles positiv und von reiner Lebenslust geprägt. Er lebt mit seinem dominanten wie liebenden Vater Ronald (Sterling K. Brown), seiner Stiefmutter Catharine (René Elise Goldsberry) und seiner Schwester Emily (Taylor Russell) zusammen. Der 18-jährige steht kurz vor seinem Abschluss, ist allseits beliebt und wird von seinem Vater zu Hochleistungen angespornt. Der erfolgreiche Architekt hat hart gearbeitet, um seiner Familie ein wohlhabendes Leben zu ermöglichen. Durchschnittliche Leistungen reichen für Menschen wie sie nicht aus. Um in dieser Welt zu bestehen, muss man Großartiges leisten, sagt Ronald. Dieses Mantra dröhnt in Tylers Kopf, der sich trotz einer schlimmen und dringend zu operierenden Bizeps-Läsion und dringendem Sportverbot in den Wettkampf wirft. Das Leben des jungen Mannes droht in eine Abwärtsspirale zu gleiten, als er sportunfähig wird, sein Leben scheinbar in Trümmern liegt und seine Freundin schließlich auch noch schwanger wird…

Taylor Russell in Waves
Taylor Russell in Waves © 2020 Universal Pictures International Germany GmbH

Viel mehr darf man über die Handlung dieses erzählerisch wie formal gewagten Film nicht wissen. Trey Edward Shults feuert audiovisuell aus allen Ohren und hält nichts zurück. Was zunächst mit einem Gefühl von jugendlicher Euphorie überwältigt, wandelt sich in eine enorm realistische und zutiefst menschliche Charakterstudie voller tief empfundenem Schmerz und einer rohen emotionalen Gefühlswelt, die zunehmend einem offen liegenden Nerven gleicht. Die Stimmung von „Waves“ ist zu jedem Zeitpunkt hoch aufgeladen und lebendig. Man wird eins mit den Figuren, erlebt ihre Schmerzen und Emotionen mit beispielloser ungefilterter Direktheit. Die intensive Kameraarbeit tut das eine, der düster-vibrierende Klangteppich, der aus Musik von Tame Impala, Frank Ocean, Radiohead oder Kanye West und dem Score von Trent Reznor und Atticus besteht das andere. Die audiovisuelle Inszenierung funktioniert als Bewusstseinszustand seiner Figuren, die ineinanderfließenden oder –krachenden Schnittübergänge und die dynamische Kameraarbeit lässt einen eins werden mit dem Film. „Waves“ geht so nahe wie lange kein Film.

Was hier genau die erzählerische Gewagtheit ist, soll nicht verraten werden. Es sei nur so viel gesagt, dass „Waves“ eine Zäsur zur Mitte erfährt, die fast schon radikal erscheint. Die erste Hälfte deckt jedenfalls die ganze emotionale Bandbreite eines intensiv empfundenen Familien- und Jugenddramas ab, wobei die komplizierte Vater-Sohn-Geschichte zwischen Tyler und Ronald im Mittelpunkt steht. Kelvin Harrison Jr. ist eine der großen Entdeckungen der letzten Zeit, dessen Tyler zwischen charmanter Sensibilität, Fragilität und explosiver Wut und Aggression schwankt und eine greifbar reale Persönlichkeit darstellt. Doch „Waves“ wartet mit einer weiteren Entdeckung in Form von Taylor Russell auf, die schon zuletzt in „Escape Room“ zu sehen war, hier aber ein ungeheures Potential und eine faszinierende Ausdrucksfähigkeit offenbart, wie man sie nur sehr selten zu sehen bekommt. Beide hätten locker Oscar-Nominierungen verdient, doch leider wurde dieser großartige Film in der Awards Season nahezu völlig übergangen.

Sterling K. Brown in Waves
Sterling K. Brown in Waves © 2020 Universal Pictures International Germany GmbH

Doch auch über die starken Bilder hinaus sorgt Shults formal durch immer wieder passend zur Situation der Figuren wechselnden Bildformate für Aufsehen und verstärkt nochmal das Gesehene. „Waves“ steigert sich kontinuierlich, bis er den Zuschauer mit fatalistischer Wucht trifft und ihn dann in der zweiten Hälfte wieder vom Boden aufsammelt und mit einer hoch ergreifenden Geschichte über Familie, Verantwortung, Schuld, Trauer, Liebe und Selbstzerstörung belohnt. Vater-Sohn- trifft auf Bruder-Schwester- trifft auf Vater-Tochter-Geschichte. Als i-Tüpfelchen folgt dann eine weitere Vater-Sohn-Geschichte, bei der der fabelhafte Lucas Hedges eine Rolle spielt. Doch wie der Titel andeutet, kommt hier alles in Wellen, nie weiß man, welche Höhen oder Tiefen der Film als nächstes erreicht.

Trey Edward Shults, der erst 31 Jahre alt ist, hat sich nun mit seinem dritten Spielfilm nach dem Drama „Krisha“ und dem mysteriösen Horrorfilm „It Comes at Night“ als eines der größten und unberechenbarsten Talente des Weltkinos etabliert. „Waves“ ist zutiefst persönlich erzählt, kunstvoll und bis in die kleinste Faser hochambitioniert, das Medium Film voll auszureizen. Er mutet dem Zuschauer auf dieser 135-minütigen emotionalen Achterbahnfahrt einiges zu, will vielleicht in manchen Bereichen schon zu viel, ist hier und da möglicherweise ein wenig zu konstruiert, eventuell einen Hauch zu lang und mit seinem aggressiven Musikeinsatz (besonders bei Kanye Wests „I Am a God“) zu bemüht. Doch das sind nur Kleinigkeiten in einem wahrhaft überwältigenden, einzigartigen und kunstvollen Werk, das mit großer menschlicher Universalität ausgestattet ist und den Zuschauer lange nicht loslässt.

Trailer zu „Waves“:

Filmwertung
10/10

Kurzfassung

„Waves“ offenbart sich als einer der stärksten Filme der letzten Zeit.

Fazit:

„Waves“ wurde zwar in der Awards Season sträflich übergangen, offenbart sich aber als einer der stärksten Filme der letzten Zeit. Regisseur Trey Edward Shults entwirft ein tief empfundenes, ergreifendes und menschliches Familiendrama, das eine enorme, schwindelerregende Sogwirkung aufbaut und mit immens kraftvollen erzählerischen wie formalen Mitteln überrascht und nie loslässt. Kelvin Harrison Jr. und Taylor Russell erweisen sich zudem als Ausnahmetalente, von denen man noch viel sehen wird.


von Florian Hoffmann

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