Oppenheimer: Der bislang beste Film des Jahres – Filmkritik

Cillian Murphy, Olli Haaskivi, Matt Damon, Dane Dehaan © Universal Pictures

Die Kritik:

All das laute Marketing-Getöse und die Social Media-Sensation um „Barbenheimer“ der letzten Monate sind natürlich eine schöne Sache, da so die gebeutelte Kinolandschaft nur profitieren kann. Doch betrachtet man sich nun schließlich „Oppenheimer“ und vergisst die unzähligen Memes, wird wenig überraschend deutlich, wie sehr dieser Film in jeder Hinsicht aus der Zeit gefallen scheint: Hier ist ein hochgradig anspruchsvoller Film zu sehen, dessen Tiefe und Komplexität im Kino dieser Größenordnung vermutlich seit Ewigkeiten nicht zu sehen war. Christopher Nolan präsentiert eine intim erzählte Charakterstudie einer faszinierenden wie tragischen Figur in hochkonzentrierten und packenden drei Stunden, die moralische und höchst relevante Fragen aufwerfen, die lange nachhallen und schlicht sprachlos zurücklassen.

Oppenheimer Poster © Universal Pictures

Auch all das Gespräch um den Spektakel-Charakter des im Optimalfall in 70mm IMAX-Großformat präsentierten Films sind letztlich Marketing-Augenwischerei: „Oppenheimer“ bietet eine Vielzahl an Figuren und fokussiert sich primär auf ausgiebige und mit Informationen vollgepackten Dialogszenen, während traditionelle Spannungs- und Spektakelmomente äußerst rar gesät sind. Immer wieder muss man sich dann unweigerlich vor Augen führen, dass es im gegenwärtigen Franchise-orientierten Kinoklima einem Wunder gleich kommt, einen derart hochgradig erwachsenen, anspruchsvollen und herausfordernden und auch noch in jeder Hinsicht analog produzierten Film in Multiplex-Kinos sehen zu können. Kurzum: Christopher Nolan ist mit „Oppenheimer“ ein Meisterwerk gelungen.

Basierend auf Kai Birds herausragender, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Biografie „American Prometheus“ erzählt Christopher Nolan hier die Geschichte einer der interessantesten und historisch relevantesten Figuren des 20. Jahrhunderts: J. Robert Oppenheimer. Wie gewohnt ist Nolan nicht an konventionellen erzählerischen Mitteln interessiert – Scheinbar assoziativ, aber dennoch unzweifelhaft mit System streut er innerhalb einer geradlinig erzählten Geschichte Momente aus Oppenheimers (Cillian Murphy) Leben ein, die sowohl vor als auch nach dem vielleicht einschneidendsten Moment des letzten Jahrhunderts angesiedelt sind: dem Abwurf der beiden Atombomben über Hiroshami und Nagasaki. Er folgt einer getriebenen Figur, die in Physikstudienzeiten an der Cambridge-University und später in Göttingen aneckt und erst als sie im Bereich der theoretischen Physik gefördert und gesehen wird (u.a. von Niels Bohr, gespielt von Kenneth Branagh), schließlich eine Berufung findet.

Nolan präsentiert diesen Mann als gepeinigte und von Visionen geplagte Figur, die immer mit dem Wissen behaftet ist, dass ein verstecktes Universum um uns herum existiert, das nur auf seine Entdeckung wartet. Teil dieses assoziativen Schnitts, der wie ein Gedanken- bzw. Erinnerungsstrom daherkommt und den Zuschauer direkt in den Verstand seiner Titelfigur zu versetzen scheint, sind im ersten Drittel immer wieder faszinierend visualisierte Geistesblitze in Form von wild umherreißenden Partikeln, Molekülen und Verbindungen, die von brachialem Sounddesign untermalt werden. Die disharmonischen und klagenden Streicher auf Ludwig Göranssons fulminanter Filmmusik verdeutlichen darüber hinaus nicht nur den rasenden Geist Oppenheimers, sondern eben auch die drohende zerstörerische Gefahr, die diesen theoretischen Ideen der Kernspaltung innewohnt.

Nolan gelingt es den Zuschauer zu Beginn unmittelbar in eine greifbare Realität aufzusaugen, der Film ist so ruhelos wie sein ikonoklastischer Protagonist, man kann fast nur von der Größe der analog aufgezeichneten Bilder und den rasenden Dialogen überwältigt werden. Man will dem Gesagten auch unbedingt folgen, Teil von einem wissenschaftlichen Diskurs, vom Entdeckergeist dieser jungen Wissenschaftler sein, die sich mit der Komplexität und dem unbändigen Potential von Quantenmechanik und Physik beschäftigen. Das ist hochgradig stimulierend und auch immer eine Spur gespenstig wie bedrohlich, denn das historische Wissen um die Errungenschaft bzw. das Ergebnis dieser wissenschaftlichen Theorien liegt allgegenwärtig über „Oppenheimer“. „Was passiert, wenn Sterne sterben“ fragt Oppenheimer einmal, auch sein ikonisches Zitat aus der heiligen Hindu-Schrift Bhagavad Vita „Jetzt bin ich der Tod geworden, Zerstörer aller Welten“ fällt schon frühzeitig.

Cillian Murphy, Olli Haaskivi, Matt Damon, Dane Dehaan © Universal Pictures

Wie bereits erwähnt, verschachtelt Nolan in diese im Kern stringent wie linear erzählte Handlung immer wieder Momente späterer Begegnungen ein, die teilweise in Schwarzweiß gehalten sind – ein Stilmittel, das auch metaphorische Relevanz hat. So gesellt sich zu dem wissenschaftlichen Element dann nämlich auch ganz prägend die politische Ebene: Insbesondere Oppenheimers Sicherheitsanhörung im Jahre 1954 mitten in der McCarthy-Ära, bei der ihm mit seiner mutmaßlichen Vergangenheit als Kommunistenanhänger ein Strick gedreht werden soll, spielt hier eine tragende Rolle. Im Mittelpunkt steht hier Oppenheimers undurchsichtige Beziehung zu Lewis Strauss (Robert Downey Jr.), dem Vorsitzenden der AEC (Atomic Energy Commission). Diese Anhörung streckt sich mit zahlreichen prägnanten Momenten über den gesamten Film und entpuppt sich wohl als das zentrale thematische Element eines enorm vielschichtigen Films. Hier geht es letztlich um die systematische Diffamierung und gezielte gesellschaftliche Dekonstruktion eines unabhängig und progressiv denkenden Menschen, der von den Machtinhabern nicht mehr gebilligt wird.

Doch lange bannt Nolan den Zuschauer natürlich mit dem Rennen gegen die Deutschen (angeführt von Werner Heisenberg, gespielt von Matthias Schweighöfer) um den Bau einer möglicherweise kriegsentscheidenden Waffe: der Atombombe. Hierfür wird Oppenheimer vom dafür abgesandten General Leslie Groves (Matt Damon) rekrutiert, woraufhin eine Forschungseinrichtung mitten in der Wüste New Mexikos errichtet wird, wo die besten Wissenschaftler des Landes jahrelang an dieser alles entscheidenden Erfindung tüfteln. Das schildert Nolan in minutiösem und mitreißendem Detail, wie hier Egos und Meinungen aufeinanderprallen, wie sich Euphorie und Ernüchterung abwechseln.

Robert Downey Jr. © Universal Pictures

Natürlich – das sollte wohl kaum eine Überraschung sein – mündet all diese Arbeit schließlich auch in der Zündung der ersten Test-Atombombe auf dem Boden der White Sands Proving Grounds am 16. Juli 1945. Die Hinführung zu dieser einen Explosion (bei der zumindest ein verschwindend geringes Risiko besteht, eine alles zerstörende Kettenreaktion auszulösen) inszeniert Nolan mit größtmöglicher, schweißtreibender und furchterregender Anspannung, die er letztlich auf bemerkenswerte Weise kulminieren lässt. All das Gesehene fühlt sich unglaublich haptisch an, denn auf visuelle Effekte wird verzichtet, wodurch der Angstfaktor nur nochmal erhöht wird. Dabei hilft es natürlich, dass sich Nolan seinem Blick treu bleibt und er ganz viel bei den Gesichtern der Beteiligten bleibt.

Dann erzählt Nolan natürlich auch von der Privatperson J. Robert Oppenheimer, die hier so meisterhaft von Cillian Murphy portraitiert wird. Sein stechender, seelenvoller Blick ist bereits wohlbekannt, Nolan nutzt ihn zu maximalem Effekt. Immer glaubt man die Gedanken dieser Figur fühlen und lesen zu können, doch bleibt sie auch immer eine Spur unnahbar und nicht greifbar – was genau im Sinne der Erzählung ist. Murphy ist damit unzweifelhaft ein Oscar-Anwärter, ebenso wie der großartige Robert Downey Jr., der in einer enorm vielschichtigen, komplexen und ambivalenten Rolle fasziniert wie lange nicht. Zu viel darf man jedenfalls nicht über diese Rolle verraten, die als kaum minder relevante Charakterstudie innerhalb des Films fungiert. Überhaupt ist „Oppenheimer“ gesäumt von faszinierenden Gesichtern und brillanten Darstellungen, die hier für ein komplettes und völlig immersives Bild sorgen.

Cillian Murphy & Emily Blunt © Universal Pictures

Ebenfalls bestechend ist Emily Blunt als Oppenheimers Ehefrau Kitty, die lange im Hintergrund agiert, bis sie einen der wohl stärksten und kraftvollsten Schlüsselmomente des Films an sich reißen darf. Auch Florence Pugh, die Oppenheimers tragische erste Liebe Jean Tatlock portraitiert, sorgt mit ihren wenigen Szenen für einen stark nachwirkenden und tieftraurigen Eindruck einer sprunghaften Figur, der sich beim Zuschauer stark einbrennt. Zum ersten Mal wird es in einem Christopher Nolan Film auch körperlich und das nicht zu wenig: Er nutzt hier grafische Sexszenen nicht als Selbstzweck, sondern insbesondere in einem Moment auf eine höchst originelle und ausdrucksstarke Weise.

All das präsentiert Nolan als Mosaik aus Erinnerungen, Gedanken und Fragmenten, die wahrscheinlich erst bei erneutem Ansehen für ganze Klarheit sorgen. „Oppenheimer“ ist vielschichtige Charakterstudie, die – insbesondere im aufwühlenden Finale – zunehmend für eine sich immer wieder ändernde Loyalität seitens des Zuschauers sorgt. Man beleuchtet und hinterfragt diese Figuren, die sich letztlich alle in Grauzonen und jenseits von einfachem Schwarzweißdenken bewegen. Immer wieder geht es um den Kontrast zwischen theoretischem Erfindergeist und eben auch der immensen Verantwortung der Wissenschaft. Für eine unübersichtliche Welt, die in ihrer Kurzsichtigkeit und Kurzatmigkeit Schwarzweißdenken zum gängigen Credo gemacht hat, könnte ein Film wie „Oppenheimer“ nicht dringlicher sein.

Tom Conti & Cillian Murphy © Universal Pictures

Nolan platziert hier immer wieder Phrasen und Fragestellungen, die diese Konflikte pointiert zusammenfassen: „Wie konnte dieser Mann, der so viel sah, so blind sein?“. Oder an anderer Stelle konstatiert Isidor Rabi (David Krumholtz), Physiker, Regierungsberater und Weggefährte von Oppenheimer, „Der Höhepunkt von 300 Jahren Physik darf keine Massenvernichtungswaffe sein“. Gerade heute, wenn wieder mit dem Potential künstlicher Intelligenz eine ungehörige Verantwortung auf den Schultern der Menschen liegt, erscheint „Oppenheimer“ auch ungeheuer relevant. Es ist eine Mahnung an respektvollem Umgang mit der Wissenschaft, die dann eben oft verloren in reiner Theorie und Tunnelblickdenken ist, sodass das größere Bild Gefahr läuft, aus den Augen verloren zu werden.

„Oppenheimer“ ist lange intellektuell stimulierendes Kino par Excellence, das in Sachen moralischer Fragestellungen ebenso herausfordert wie in seiner komplexen Erzählstruktur. Man ist gefesselt von diesem Film, glaubt zu wissen, was erzählt wird, wie die Figuren zueinander stehen, bis Nolan dem Zuschauer auf gewohnte Weise dann doch den Boden unter den Füßen wegzieht. Eine Schlüsselszene mit Albert Einstein (Tom Conti) bleibt so in Erinnerung, bei der Nolan erneut einen Kniff zieht, für den er schon mit seinen anderen Werken bekannt ist: So lässt er den Zuschauer lange im Unklaren über den Inhalt einer bestimmten Szene, bis er ihn dann zu einem ganz gewählten Moment aus anderer Perspektive offenbart. Über das ganz Konkrete hinaus stecken in „Oppenheimer“ letztlich überaus komplexe Fragen zu nichts geringerem als der menschlichen Natur. Wie Nolan sich hier ganz lange auf Makroebene bewegt, um dann das größere Bild zu entlarven, ist nichts geringeres, als ein Ereignis, das dieses Jahr wohl ihresgleichen sucht.

Filmwertung
10/10

Zusammenfassung

Christopher Nolans „Oppenheimer“ – Komplexe Charakterstudie auf größtmöglichem filmischem Niveau

Fazit:

„Oppenheimer“ offenbart sich als der bislang beste Film des Kinojahres und als vielleicht krönende Leistung in Christopher Nolans Schaffen. In einer künstlichen Franchiselandschaft entpuppt sich diese hochkomplexe und anspruchsvolle Charakterstudie, die tiefgreifende Fragen zur menschlichen Natur aufwirft, als regelrechtes Wunder. Hier werden drei Stunden geballte Dialog- und Informationskraft in für Nolan gewohnt unkonventioneller Erzählstruktur hochgradig packend aufgebaut, bis er schließlich dem Zuschauer den Boden unter den Füßen auf bemerkenswerte Weise wegreißt. Das ist sprachlos machendes, provokatives, monumentales und stimulierendes Kino auf höchstem Niveau, das noch lange nachhallen und zu ausgiebigen Diskussionen anregen wird.


von Florian Hoffmann

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