Licorice Pizza – Filmkritik zum Coming-of-Age-Film

Licorice Pizza: Alana (Alana Haim) und Gary (Cooper Hoffman)
Licorice Pizza: Alana (Alana Haim) und Gary (Cooper Hoffman) © Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc

Die Kritik:

1973, San Fernando Valley: Als der 15-jährige Gary Valentine (Cooper Hoffman) auf dem Weg zum Fototag seiner High School ist, erblickt er die zehn Jahre ältere Alana Kane (Alana Haim), die dort dem Fotografen assistiert. Sofort ist es um den auffällig selbstbewussten Jungschauspieler geschehen und es nötigt ihm scheinbar nicht viel Mut ab, um Alana ganz schamlos nach einem Date zu fragen. Wohlwissend, dass hier ein nicht zu verachtender Altersunterschied im Raum steht, blockt Alana spielerisch ab, doch es ist klar, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnen könnte, was sich irgendwo zwischen liebevoller, platonischer und geschäftlicher Beziehung bewegt…

Licorice Pizza-Hauptplakat
Licorice Pizza-Hauptplakat © 2021 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.

In langen Plansequenzen und mit starken Schlagabtauschen beginnt Paul Thomas Andersons wunderbare, zutiefst persönliche und stark nostalgisch gefärbte Coming-of-Age-Geschichte, die zugleich auch als einsichtsreiche Zeit- und Gesellschaftschronik fungiert. Wie schon in zahlreichen früheren Filmen bringt es den Autorenfilmer erneut in seine nordwestlich von Los Angeles gelegene Heimat. So leichtfüßig und warmherzig hat man Anderson bislang allerdings wohl noch nie gesehen, der insbesondere in seiner zweiten Karrierephase mit „There Will Be Blood“, „The Master“ oder zuletzt „Der seidene Faden“ düster-tiefsinnige und auch sperrige Meisterwerke abgeliefert hat. „Licorice Pizza“ (benannt nach einem Plattenladen im San Fernando Valley, der im Film nicht zu sehen ist) hingegen ist überraschenderweise ein ausgesprochen menschlich und positiv gestimmter Abhängfilm, der starke Richard Linklater-Vibes à la „Dazed and Confused“ oder insbesondere auch Quentin Tarantinos ähnlich geartetes L.A.-Opus „Once Upon a Time in Hollywood“ versprüht. Dennoch gelingt es Anderson dem Film ganz unzweifelhaft seine eigene Handschrift aufzusetzen.

Doch wie auch in den genannten Filmen erzählt Anderson ganz viel, obwohl eigentlich gar nicht viel passiert und auf konventionelle Dramaturgie verzichtet wird. Sein neunter Spielfilm bordet stattdessen von der ersten bis zur letzten Sekunde vor spezifischen Details förmlich über, die Ort und Zeit meist beiläufig, aber auch mal direkter überaus greifbar machen. Nur ein Filmemacher, der diesen Ort wie seine Westentasche kennt, ist natürlich in der Lage so einen unwiderstehlichen und spezifischen Film abzuliefern. Gepaart mit Andersons körnig-texturierten, strahlenden wie energiereich umherfließenden 35mm-Bildern, perfekt und unaufdringlich gesetztem Szenenbild und dem herausragenden Soundtrack ist „Licorice Pizza“ ein großes Geschenk für all die Filmliebhaber, die gerne in vergangenen Zeiten schwelgen und dabei ganz nah an greifbaren Figuren hängen, die man dann auch immer wieder besuchen möchte.

Doch was auf den ersten Blick leichtgewichtig erscheint, entpuppt sich doch als zutiefst profunde Angelegenheit: Anderson hat sich von den Geschichten seines Freundes Gary Goetzman inspirieren lassen, der selbst Kinderstar war und später für Jonathan Demme und Tom Hanks zahlreiche Filme produziert hat. So betreibt Film-Gary ähnlich wie sein reales Vorbild im Laufe des Films einen Wasserbetten-Vertrieb, was ihn schließlich sogar in die heiligen Gemächer des berüchtigten Hollywood-Powerplayers, Starfriseurs und Barbra Streisand-Freund Jon Peters befördert, der hier genussvoll überhöht mit viel Spielfreude von Bradley Cooper verkörpert wird. Auch lässt Anderson andere Realfiguren der Ära wie William Holden oder Lucille Ball auftreten, die unter leicht modifizierten Namen herrlich augenzwinkernd in weiteren Gastauftritten von Sean Penn beziehungsweise Christine Ebersole dargestellt werden. Nennenswert ist, dass Anderson Hollywood und die Vergangenheit keineswegs verklärt, sondern eher mit betont einsichtigem und satirisch scharfsinnigem Biss entlarvt, aber auch zugleich liebevoll zelebriert.

Licorice Pizza
Licorice Pizza: Alana (Alana Haim) und Gary (Cooper Hoffman) © 2021 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc

Anderson erzählt hier episoden- beziehungsweise anekdotenhaft und ohne klar erkennbare Struktur, verliert aber in seinen scheinbar chaotischen Erzählrhythmen nie seine beiden Hauptfiguren aus den Augen. Hier ist ihm ein absoluter Coup gelungen, denn sein Wagnis, Philip Seymour Hoffmans Sohn Cooper ebenso in seiner ersten Filmrolle zu besetzen wie die ebenfalls aus dem San Fernando Valley stammende Musikerin Alana Haim, hat sich voll und ganz ausgezahlt. Es ist ein absoluter Genuss, diesen beiden wunderbar natürlichen und enorm charismatischen Darstellern zuzusehen, wie sie sich über die gesamte Laufzeit umtänzeln und einen Funken entzünden, der den Film schon ganz alleine trägt.

Während der erwachsen auftretende Gary keinen Hehl um seine Verliebtheit macht, blockt Alana konsequent ab, die dann aber eifersüchtig ist, wenn er sich zwischenzeitlich eine andere schnappt. Ebenso geht es dann auch in die umgekehrte Richtung, wodurch Anderson gekonnt subtile Spannung aufbaut. Kriegen sie sich oder nicht? Jedoch überschreitet er hier auch keine moralischen Grenzen und lässt die Beziehung stets zuckersüß, unschuldig und frei jeder Provokation erscheinen, sodass erst gar kein Grund für unnötige Kontroversen aufgemacht wird. Diese Beziehung geht über reine Sexualität hinaus und ist durch ihr emotionales Fundament umso stärker und vielschichtiger. Am ehesten ist diese Figurendynamik möglicherweise mit der Konstellation zwischen dem minderjährigen Rolling Stone-Reporter William Miller und dem Rock-Groupie Penny Lane in Cameron Crowes „Almost Famous“ vergleichbar.

Licorice Pizza: Alana und Gary im Truck unterwegs
Licorice Pizza: Alana und Gary im Truck unterwegs © Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc

In ganz feinen und unaufdringlichen Tönen stellt „Licorice Pizza“ die Entwicklung dieser beiden Figuren dar: Gary, der neben seiner Schauspielerkarriere auch noch gemeinsam mit seiner Mutter ganz selbstverständlich ein PR-Unternehmen betreibt, tritt zwar amüsanterweise selbstbewusst und zielgerichtet auf, doch ist zu jedem Zeitpunkt klar, dass er dennoch ein Heranwachsender ist, der noch viel lernen muss. Die von Natur aus reifere Alana mag zwar von Anfang an auch ebenso wirken, jedoch wird im weiteren Verlauf deutlich, dass auch sie ein wenig verloren und ziellos ist, während sie sich in einem Selbstfindungsprozess befindet, der sie durch verschiedene kurze Bekanntschaften und Jobs führt. Das alles erzählt Anderson wie angedeutet in verschiedenen wunderbar amüsanten Episoden, die fast schon für sich stehen könnten. Wie Anderson diese beiden parallel und dann auch wieder sich überkreuzenden Coming-of-Age-Geschichten verwebt, während er ein scharfsinniges Portrait einer Ära und ihrer Menschen zeichnet, ist in seiner unaufdringlichen Machart virtuos.

So genüsslich und unbeschwert dieser tolle Film ist, sein MVP ist unzweifelhaft die großartige Alana Haim. Die jüngste der drei Haim-Schwestern (die hier ebenso mitsamt Eltern auftreten) ist der seltene Fall einer perfekten Besetzung, für die man sich schlichtweg keine andere Person mehr vorstellen könnte. Sie ist quasi der lebende Beweis dafür, dass manche Menschen einfach für die Kamera gemacht sind und mit ihrem reinen Ausdruck alles zum Strahlen bringen können. Sicher kann man zwar Schauspiel in seinen technischen Feinheiten erlernen, eine Präsenz hat man aber von Natur aus oder eben nicht. Haim hat genau dieses ganz gewisse Etwas, das dafür sorgt, dass man seine Augen einfach nicht von ihr nehmen kann, dass man in ihrem von jeder falschen Eitelkeit befreiten ungeschminkten Gesicht versinken kann. Sie strahlt eine dermaßen magnetische Natürlichkeit und Mischung aus Coolness und Verletzlichkeit aus, sodass sie „Licorice Pizza“ in jedem Moment mit bemerkenswerter Leichtigkeit an sich reißt. Sie verfügt über diese magische Leinwandpräsenz, in die man sich problemlos im ersten Moment verlieben kann. Bei all dem Hype um Alana darf aber auch nicht vergessen werden, welch unschuldige, sympathische, unprätentiöse und ausdrucksstarke Präsenz Cooper Hoffman ausstrahlt, dem ebenso wie Haim eine große Zukunft vor der Kamera bevorstehen könnte. Auch wenn „Licorice Pizza“ sein Anfangs-Momentum zwischenzeitlich etwas verliert, ist Paul Thomas Anderson ein wunderbar luftiger, berührender und spaßiger Film gelungen, in dessen Welt man noch gerne länger verweilen möchte.

Filmwertung
9/10

Kurzfassung

Unbeschwerte und warmherzige Coming-of-Age-Geschichte.

Fazit:

Paul Thomas Anderson kehrt nach seinem Ausflug ins England der 50er Jahre in „Der seidene Faden“ in seine Heimat zurück. Seine unbeschwerte und warmherzige „Licorice Pizza“ entpuppt sich als überaus bekömmliches Mahl, das nicht schwer im Magen liegt und trotz scheinbarer Leichtgewichtigkeit voller feiner Noten steckt. Sein brillant eingefangenes und virtuos gefilmtes Stück lebendig gewordene Zeitgeschichte verwebt zwei Coming-of-Age-Geschichten auf brillante Weise und präsentiert mit Alana Haim und Cooper Hoffman zwei schauspielerische Offenbarungen.


von Florian Hoffmann

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