Red Rocket – Filmkritik

Red Rocket - Simon Rex und Suzanna Son
Red Rocket - Simon Rex und Suzanna Son © Drew Daniels / Universal Pictures

Die Kritik:

Momentan gibt es wohl nicht viele Filmemacher, die das Herz des modernen Amerika so nah, ungeschönt und mit entwaffnender Wärme und Menschlichkeit einfangen wie Sean Baker. Wie schon in „Starlet“, „Tangerine“ und seinem Oscar-nominierten Meisterwerk „The Florida Project“ blickt Baker auch in seinem neuesten Film „Red Rocket“ mit aufsehenerregender Authentizität, Empathie und einem außergewöhnlichen Auge für echte Gesichter und Geschichten auf die Randfiguren am Bodensatz der amerikanischen Gesellschaft. Diesmal geht es nach Texas City, wo der abgewrackte Pornostar Mikey (Simon Rex) nach 17 Jahren plötzlich vor der Tür seiner Noch-Ehefrau Lexi (Bree Elrod) und deren Mutter Lil (Brenda Deiss) steht. Ohne jedes Gepäck, sichtlich von Prügeleien mitgenommen und nahezu pleite sucht der Heimkehrer nach Unterschlupf, den er nur nach langer Überredungskunst bekommen kann. Mikey ist hier verhasst und was zunächst nur ein paar Tage langer Aufenthalt sein soll, wird zu mehreren Wochen, in denen auch die 17-jährige Donut-Verkäuferin Raylee (Suzanna Son) in den Orbit des charismatischen, aber selbstsüchtigen Opportunisten Mikey gerät…

Red Rocket - Filmplakat
Red Rocket – Filmplakat © Universal Pictures

Man kann als Zuschauer nicht anders und fasziniert von diesem Mann sein: Baker gelingt mit dem ehemaligen MTV-Moderator, Model, Rapper und wenig erfolgreichem Schauspieler Simon Rex erneut ein Casting-Coup: Rex, der wohl durch seine Auftritte in drei „Scary Movie“-Filmen am bekanntesten ist, begeistert hier mit einer magnetischen Performance einer komplex gezeichneten Figur, die man nur sehr schwer fassen kann. Sowohl für die Menschen im Film als auch dem Publikum fällt es schwer, von diesem emotionalen Vampir nicht aufgesogen zu werden. So gelingt es ihm zunächst dank seiner erschöpfenden Maschinengewehr-Rhetorik und vor allem dank seines Schuljungen-Charmes in dem heruntergekommenen Heim von Lexi und Lil einen Schlafplatz zu finden. Er will sich auch direkt aufmachen, um einen Job zu finden, sagt er. Als das insbesondere wegen seiner durchaus erfolgreichen Porno-Vergangenheit und ansonsten quasi nicht-existenter Berufserfahrung zum Problem wird, macht er eben das, was er vor seiner „Karriere in der Unterhaltungsbranche“ gemacht hat – Gras verkaufen.

Das macht Mikey auch durchaus erfolgreich, denn wo er zunächst nur einen Teil der Miete beisteuern wollte, kann er schnell die Gesamtkosten tragen. Die frostigen Mienen seiner vom Leben enttäuschten WG-Genossinnen erheben sich zwar kaum, aber Mikey macht sich in kurzer Zeit wieder weitestgehend beliebt. Die Fronten zwischen ihm und Lexi erwärmen sich dann aber doch, denn wo er zunächst noch auf der Couch übernachten musste, kann er auch bald wieder bei seiner Noch-Frau im Bett schlafen. Ansonsten hängt Mikey mit dem gutmütigen Taugenichts von nebenan Lonnie (Ethan Darbone) ab, der stolz eine Army-Jacke trägt und mit seiner angeblichen Kriegserfahrung prahlt.

Als Mikeys Augen auf die Donutshop-Angestellte Raylee fallen, zeigt sich eine ganz neue Determination bei dem narzisstischen Ex-Pornohengst: Mit fast schon macchiavellistischer Manipulationsgabe macht er sich an die scheinbar unschuldige Raylee ran, die sich auch viel lieber Strawberry nennt. Mikey gibt sich als Talentmanager aus Hollywood aus, der hier seine kranke Mutter besucht, die in einem gehobeneren Viertel von Texas City lebt. Die beiden beginnen eine Affäre, die man als Zuschauer angesichts des Altersunterschieds erst mal verdauen muss. Hier zeichnet Baker ein bewusst provokantes und auch immer wieder freizügiges Lolita-Szenario, jedoch lässt er Strawberry nicht zum einfachen Opfer werden. Er gibt ihr Komplexität und Selbstbestimmtheit, macht sie ebenbürtig in dieser unmoralischen Beziehung. Denn nach und nach wird klar, dass Mikey nicht einfach nur angezogen von der jungen Schönheit ist, sondern auch opportunistisch denkt und Strawberry zum neuen großen Stern am Pornohimmel machen will. Über sie will er wieder einen Weg in die Branche finden, doch ganz so einfach soll es dann nicht für Mikey werden.

Red Rocket - Suzanna Son
Red Rocket – Suzanna Son © Drew Daniels / Universal Pictures

Es ist einfach bemerkenswert, wie gekonnt Baker ein ums andere Mal ein derart faszinierendes Licht auf gesellschaftlich marginalisierte Außenseiter wirft, ohne je in einfaches Betroffenheitskino zu rutschen. Auch „Red Rocket“ erweist sich als hochgradig unterhaltsamer Film, der Esprit, Humor, Leichtigkeit und echte Magie offenbart, die nachwirkt. In warmer 16mm-Ästhetik und gesättigten Farben lässt er diese abgeranzte White Trash-Umgebung mit bemerkenswerter Authentizität und seltsamer Schönheit lebendig werden, indem er diesen sehr speziellen Ort mit seinen gigantischen Öl-Raffinerien im Hintergrund, der Armut und dem allgemeinen Verfall im Vordergrund und vor allem den so glaubhaften Gesichtern präzise einfängt. Wie auch schon in seinen vorigen Filmen hat er einige Darsteller*innen quasi von der Straße gecastet, darunter die jetzt 25-jährige Theater- und Musikstudentin Suzanna Son, die er vor Jahren in einem Kino in L.A. entdeckt hat. Insbesondere Son ist eine wirklich aufsehenerregende und alles überstrahlende Entdeckung, von der man hoffentlich noch viel sehen wird.

Doch was „Red Rocket“ so bemerkenswert macht, ist sein außerordentlich menschliches, ausgewogenes und nicht wertendes Portrait eines selbstsüchtigen und eigentlich abstoßenden Schmarotzers mit monströsem Ego. Simon Rex ist brillant in einer Rolle, die man eigentlich verachten müsste, jedoch folgt man diesem Menschen nicht nur wegen seines guten Aussehens, Humors und Charmes, sondern auch, weil er nie ganz durchschaubar ist, weil man nicht weiß, was man von ihm halten soll. Die Möglichkeit, dass Mikey sich seines ausbeutenden Verhaltens gar nicht bewusst ist, steht eben auch immer im Raum. Wo andere Regisseure ihrer Figur eine Läuterung geben würden, erlöst Baker Mikey und auch die Zuschauer mit keiner einfachen Katharsis. Hier ist eine Figur zu sehen, die sich scheinbar gar nicht ändern kann, die keine Fehler in ihrem Verhalten sieht – oder noch nicht sehen kann.

Red Rocket - Bree Elrod
Red Rocket – Bree Elrod © Drew Daniels / Universal Pictures

Baker entlockt in diesen 130 Minuten aber nicht nur seinem Protagonisten immer mehr Dimension, er legt nach und nach auch bei den scharf gezeichneten Nebenfiguren zunehmend interessante Facetten frei, die für Überraschungen sorgen und sie stetig in neuem Licht dastehen lassen. So entpuppt sich insbesondere Strawberry als jemand, der weit mehr unter einer scheinbar naiven und jugendlichen Oberfläche zu bieten hat und ihr ganz eigenes Spiel spielt. Aber auch Lexi, die brillant von der New Yorker Theater-Schauspielerin Bree Elrod verkörpert wird, entpuppt sich als vielleicht tragischste Figur dieser ganzen Konstellation. Das gibt dem fantastischen „Red Rocket“ eine ambivalente Dynamik, die sehr spannend und unberechenbar ist.

Filmwertung
8.5/10

Kurzfassung

Faszinierend widersprüchliche Charakterstudie eines charismatischen und liebenswerten Narzissten.

Fazit:

Regisseur Sean Baker setzt seinen bemerkenswerten Lauf fort und präsentiert mit „Red Rocket“ eine faszinierend widersprüchliche Charakterstudie eines charismatischen und liebenswerten Narzissten, den man eigentlich hassen will. Erneut begeistert Baker aber auch mit seiner zutiefst empathischen und lebendigen Darstellung gesellschaftlicher Außenseiter, die er in ihrer dokumentarisch eingefangenen Umgebung facettenreich zur Geltung kommen lässt.


von Florian Hoffmann

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