Midsommar – Filmkritik: Ein sonnendurchfluteter Albtraum

Midsommar: Florence Pugh, Vilhelm Blomgren und Jack Reynor
"Midsommar" von Ari Aster (© Gabor Kotschy, Courtesy of A24)

Die Kritik:

Eigentlich hat man sich kaum von dem erst letztes Jahr erschienenen Horror-Meisterwerk von Regie-Debütant Ari Aster erholt, da lässt der 33-jährige Amerikaner auch schon seinen zweiten nicht minder versierten Streich folgen. War „Hereditary“ längst nicht nur durch seine Horror-Elemente tief verstörend, so traf er sogar umso heftiger durch seine menschliche Tragik in Mark und Bein. Diese Grundlage macht auch „Midsommar“ so stark, denn was vordergründig als hypnotischer, tief beunruhigender Folk-Horror um einen heidnischen Kult à la „The Wicker Man“ erscheint, entpuppt sich als genau das, aber eben noch viel mehr: Wie auch in „Hereditary“ steht eine Protagonistin im Vordergrund, die unglaubliche Trauer zu bewältigen hat und entsprechend emotional fragil und psychisch angeschlagen ist.

Midsommar Filmplakat
Midsommar Filmplakat © Weltkino Filmverleih

Diese Protagonistin ist Dani (Florence Pugh), deren wankelmütige Beziehung zu ihrem entfremdeten Freund Christian (Jack Reynor) ohnehin schon schwierig genug ist, als es zu tragischen Trauerfällen in ihrer Familie kommt. Auch wenn Christians Freunde Josh (Will Poulter), Mark (William Jackson Harper) und Pelle (Vilhelm Blomgren) wenig begeistert sind, begleitet sie Dani auf ihren lange geplanten Trip ins ländliche Schweden. Dort wollen die Anthropologie-Studenten an einem traditionellen Sommersonnenwendefest in der abgelegenen Gemeinde Hälsingland teilnehmen, zu dem Pelle eingeladen hat, der einst dort aufgewachsen ist. Auch wenn die traditionell bekleideten Bewohner überaus friedlich, lächelnd und zuvorkommend erscheinen und auch das ländlich-sommerliche Setting idyllisch daherkommt, dauert es nicht allzu lange, bis sich die uralten Bräuche als weit unheimlicher entpuppen, als zunächst erwartet…

Schon in den Anfangsminuten, die noch auf amerikanischem Boden stattfinden, zeigt Aster erneut, wie meisterhaft er dem Publikum den Boden unter den Füßen wegreißen kann. Startet der Film als präzise beobachtetes und exzellent gespieltes neurotisches Beziehungsdrama, konfrontiert Aster den Zuschauer plötzlich mit unvorstellbarer, markerschütternder Tragik, die einen fassungslos und versteinert zurücklässt. Aster beherrscht sein Medium so beängstigend gut, dass er den Zuschauer jederzeit hart treffen kann, ohne dass er es kommen sieht. War es in „Hereditary“ Toni Collettes aus den tiefsten Tiefen kommender Schrei der Trauer, geht nun Florence Pughs klagendes Heulen durch alle Fasern des Körpers hindurch. Nachdem Aster mit dem emotionalen Vorschlaghammer zugeschlagen hat (der brillant von Bobby Krlics eindringlicher Musik und Pawel Pogorzelskis präziser Kameraarbeit unterstützt wird), schaltet er zunächst wieder einen Gang runter.

Midsommar: Isabelle Grill
Midsommar: Isabelle Grill (© Csaba Aknay, Courtesy of A24)

Bereits nach wenigen Sekunden wird auch hier Asters exzellentes Gespür für realistische Figurenzeichnung und naturalistische Darstellerarbeit deutlich. So etabliert er die Freundschaft der jungen Männer ebenso natürlich und effektiv als auch das Seelenleben von Dani. Darüber hinaus überrascht Aster trotz des unterschwelligen und stetig steigenden Gefühls des Unwohlseins auch mit einem überaus gelungenen Händchen für trockenen und schwarzen Humor. Auch dieses Element potenziert sich im Verlauf des immer bizarrer werdenden Films, der gekonnt die Balance zwischen menschlichem Drama, groteskem und tief albtraumhaftem Horror und daraus hervorkommendem bitterbösem und abseitigem Humor hält.

Doch nochmal auf Anfang: Während der herzliche Empfang durch Pelles angenehmen Bruder Ulf (Henrik Norlén) noch wenig beängstigend erscheint, sorgt ein erster gemeinsamer Trip auf Psychopilzen zwar für kurze Lacher, aber dann auch schließlich für Beklemmung, als die umherirrende Dani von ihrem Trauma und tiefer Angst getroffen wird. Aster macht diesen bewusstseinsverändernden Trip nahezu körperlich spürbar. Wie auch schon bei der überwältigend aufspielenden Toni Collette in „Hereditary“ gelingt es Aster erneut, dass man sich regelrecht in den Kopf der Hauptfigur versetzt wird und das Gefühl hat, ihrem vernarbten, von Dämonen geplagten Innenleben nicht entkommen zu können. Dass sich die emotional bedürftige Dani eigentlich von Beginn an kaum auf ihren distanziert und eigensinnig wirkenden Freund stützen kann, gibt dann ihrem Isolationsgefühl nur den Rest. Aster platziert zusätzlich subtil Konflikte zwischen den Figuren, die sich angesichts der Ereignisse gekonnt zuspitzen.

Midsommar: Jack Reynor und Florence Pugh
Midsommar: Jack Reynor und Florence Pugh (© Gabor Kotschy, Courtesy of A24)

Florence Pugh, nach „Lady Macbeth“, „Die Libelle“ und „Fighting with My Family“ einer der am steilsten aufsteigenden Shootingstars der letzten Jahre, liefert hier eine absolut überwältigende Tour de Force, die sie schon jetzt für sämtliche Auszeichnungen empfiehlt. Sie macht ihre starken Emotionen im Verlauf des Films auf derart natürliche Weise kraftvoll spürbar, lässt sie nach außen bersten, ohne zurückzuhalten und verfügt dabei über eine Furchtlosigkeit, Intensität und Strahlkraft, dass es einem die Sprache raubt. Pugh ist zweifelsohne ein Ausnahmetalent, von dem man noch viel hören wird.

„Midsommar“ ist sicherlich weit von einem herkömmlichen Schocker entfernt. Er ist behutsam aufgebaut, langsam erzählt und sicher nicht an drögen Jumpscares interessiert. Wer „Hereditary“ erlebt hat, sollte hiervon nicht überrascht sein. Aster lässt seine Geschichte mit fast schon perverser Geduld über satte 147 Minuten entfalten, ohne aber ganz das Gefühl von tiefer, nicht greifbarer Beklemmung zu erreichen, wie es in seinem Erstlingswerk der Fall war. Spielte dieser Film noch ganz deutlich mit der Frage, ob die übernatürlichen Erscheinungen ihren Ursprung in der Psyche der Hauptfigur haben, ist die Bedrohung in „Midsommar“ weniger diffus und dadurch greifbarer. Sicher, der Film spielt auch mit zunehmend steigender Paranoia angesichts der wenig durchschaubaren, oft seltsam agierenden Dorfbewohner, jedoch ist klar, dass sich Aster der Genre-Tradition des Folk-Horrors bewusst ist und diese gar nicht großartig variieren will. Er spielt genüsslich mit der Erwartungshaltung des Zuschauers, lässt sie wie einen Elefanten im Raum stehen. Was hat es mit dieser uralten heidnischen Kommune namens Hårga auf sich? Wo führt der Film hin?

Midsommar: Die Älteren
Midsommar: Die Älteren (© Gabor Kotschy, Courtesy of A24)

Vorhersehbar ist dieser zutiefst makabre, groteske, beunruhigende, surreale und hypnotische Trip sicher nicht. Aster lässt sich Zeit, aber als sich der mysteriöse Inhalt des ersten Brauchs der Hårga offenbart, den man aus Sicht der Protagonisten erlebt, erreicht der Film eine ähnliche brutale Schockwirkung wie auch „Hereditary“ bei diesem einen besonders berüchtigten Moment. Aster offenbart sich hier erneut als Meister der albtraumhaften Bilder, die sich unwiderruflich ins Gedächtnis einbrennen. Doch gerade als man dachte, den schlimmsten Schock überstanden zu haben, setzt er mit schadenfroher Perversion noch einen darauf. Vielleicht geht Aster danach ein kleines Stück zu weit und läuft dabei Gefahr, dass sich seine sparsam und präzise eingesetzten Schockbilder abnutzen könnten, doch dann kriegt er gerade noch die Kurve. Dennoch eskaliert der Film jedoch nicht und wiegt die Figuren zunächst in falsche Sicherheit. Nur ganz behutsam zieht Aster die Spannungs- und Beklemmungsschrauben an, bis er sich unvermeidlich steigert und schließlich den Perversionsgrad und die Anzahl morbider, verkommener Akte und halluzinatorischer Beunruhigung auf hysterische Höhen treibt.

Wie eingangs erwähnt ist „Midsommar“ eben nur an der Oberfläche klassischer heidnischer Horror mit all seinen in gleißendes Sonnenlicht getauchten grausamen Eskalationen, der (trotz der fiktiven, aber real inspirierten Natur der Hårga) Schweden als Reiseziel fürs erste sicher nicht allzu attraktiv macht. Im Kern ist der Film zum einen das unter die Haut gehende Portrait einer jungen Frau, die an einem schrecklichen Trauma nagt, aber auch an einer destruktiven und wenig harmonischen Beziehung festhält. Diese Beziehung erforscht der Film beiläufig, aber dennoch auf den Punkt gebracht und bringt sie auf höchst originelle Weise zu einem denkwürdigen, metaphorischen, kathartischen und bizarren Ende, das in Asters bitterer Welt dank eines strahlenden Schlussbilds fast schon als optimistisch und merkwürdig erfüllend gelten kann.

Trailer zu „Midsommar“

Filmwertung
9/10

Kurzfassung

„Midsommar“ ist ein sonnendurchfluteter Albtraum, zutiefst beunruhigend und unter die Haut gehender heidnischer Horror.

Fazit:

„Midsommar“ ist ein sonnendurchfluteter Albtraum, der Ari Aster nach seinem Triumph „Hereditary“ nun definitiv als jungen Meister offenbart, der sein Medium mit bemerkenswerter Versiertheit beherrscht. Sein zweiter Film ist zum einen zutiefst beunruhigender und unter die Haut gehender heidnischer Horror, zum anderen aber auch eine bitterböse Beziehungsgeschichte und psychologisches Drama. Aster gelingen zahlreiche sich ins Gedächtnis brennende, zutiefst beunruhigende Schockmomente, aber auch eine meisterhafte Atmosphäre des Unwohlseins, die aber auch Platz für schwarzen Humor lässt. Getragen wird das alles von einer herausragenden Florence Pugh, die hier eine Oscar-würdige Tour de Force liefert.


von Florian Hoffmann

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