Interview mit Oliver Kienle und Christoph Letkowski zu DIE VIERHÄNDIGE

Regisseur Oliver Kienle bei der Arbeit

Morgen startet der Drama-Thriller DIE VIERHÄNDIGE von Drehbuchtor und Regisseur Oliver Kienle (BIS AUFS BLUT) in den Kino. In dem Film über zwei Schwestern, die in der Kindheit Zeuge eines Gewaltverbrechens werden, das sie nicht loslässt und Jahre später verheerende Konsequenzen für ihr Leben hat, spielt Christoph Letkowski
(FEUCHTGEBIETE) den Arzt Martin, der für eine der Schwerstern zum Anker wird. Blengaone-Redakteurin Sandy Kolbuch traf Oliver und Christoph auf einen Kaffee und sprach mit ihnen über den Film und
seine Besonderheiten.


Muss man sich heutzutage sehr viele Gedanken über den Cast machen,wenn man international erfolgreich sein will?

OK: Unsere Filmbranche in Deutschland ist angstbesessen. Dabei hat die deutsche Branche gar keinen Grund dazu. Wir haben ein sehr gut gefördertes Filmsystem und leben in einem Land mit Wohlstand. Wenn man in einem Land wie Rumänien einen Film dreht, wo es keine richtige Branche gibt, dann kann man Angst haben.

CL: Ich komme aus dem Osten, wo Filme wie SPUR DER STEINE oder PAUL UND PAULA ganz klar polarisiert haben und politisch adressiert waren. Heutzutage steht man da im korrekten Deutschland oft ziemlich sattgefressen auf der Weide. Zufriedenheit ist gerne ein Killer für kreatives Schaffen. In anderen Ländern hingegen gibt es immer noch
eine ganz andere Motivation über Filme zu kommunizieren, weil es nicht zuletzt auch andere politische Angriffspunkte gibt.

OK: Man muss sich komplett frei von Gedanken machen und sich international orientieren. Sobald man damit beginnt, darüber nachzudenken, wie man in Deutschland Zuschauer bekommt, kann man es gleich vergessen. So funktioniert es einfach nicht. Wir haben hier weder die Tradition, noch das Stammpublikum. Dafür gibt es die jahrelange Skepsis gegenüber dem deutschen Kino. Man muss sich den universellen Zuschauer vorstellen und überlegen, wie man das Kino für ihn gestalten will.

Der deutsche Film muss sich wahrlich nicht verstecken, weil wir gute Regisseure, Drehbuchautoren und Darsteller haben…

OK: Alles außer Drehbuchautoren. Wir haben leider keine guten Autoren.

CL: Solange es Studenten gibt, die für wenig Geld Bücher für ansässige Telenovelas schreiben und dadurch Dumpingpreise erzielen, gibt es einen Qualitätsverlust. In den USA gehen die Darsteller beispielsweise für die Autoren auf die Straße, weil sie wissen, dass es ohne sie keine guten Bücher mehr gibt.

OK: In Deutschland gibt es eine starke Fernsehindustrie, die im Vergleich zu anderen Ländern gar nicht so schlecht ist. Das führt dazu, das man als Autor mit mittelmäßigen Drehbüchern relativ schnell viel Geld verdienen kann, weil diese abgenommen werden. Gute Autoren rutschen schnell in diese Branche, werden reich und wollen anschließend gar nicht mehr qualitativ hochwertige Bücher schreiben. Bei den aktuellen (ausländischen) Serien gibt es hohe Messlatten, an denen die Deutschen scheitern. Ich hoffe, dass die Deutschen dadurch erkennen, dass wir unsere Latten auch viel höher hängen müssen. Das braucht aber Geduld, Zeit und Geld.

Oliver, Christoph spielt die männliche Hauptperson namens Martin. Warum hast Du Dich für ihn entschieden?

Christoph Letkowski wird während des Drehs nachgeschminkt

CL: Ja los, erzähl schon (lacht)

OK: Ich war etwas alternativlos (lacht). Nein, Spaß! Wir haben jemanden für die schwierige Rolle des Martin gesucht, der sowohl Identifikationsfigur für den Zuschauer und zugleich Schulter zum Ausweinen für Sophie ist. Bei Martin weiß man immer, wo die Realität ist. Martin muss als Funktionsfigur spürbar sein, ohne von der Handlung abzulenken oder unsympathisch zu werden. Christoph hat genau das geschafft und die Kombination aus Humor und versteckter Tiefe hinbekommen.

CL: Schauspieler sind gerne narzisstisch und mit Eigenliebe aufgeladen. Je älter man wird, desto mehr verliert sich das und man konzentriert sich auf den Stoff. Mir ging es bei DIE VIERHÄNDIGE um die Geschichte. Wäre ich jünger gewesen, hätte ich Oliver vermutlich beim Casting Honig um seinen nicht vorhandenen Bart geschmiert und wäre während des Drehs laufend mit neuen Ideen zu ihm gerannt. Es erfordert eine gewisse Erfahrung zu erkennen, was wirklich relevant ist. Tatsächlich habe ich mich in den Dienst der Geschichte gestellt und bin dann auch mit dieser Einstellung zum Casting gegangen. Natürlich muss aber auch die Chemie zu den anderen Darstellern stimmen. Wir sind alle in einem ähnlichen Alter, haben eine ähnliche Schule durchlaufen und haben eine ähnliche Sicht auf die Dinge, was das ganze Projekt sehr angenehm gemacht hat. Ich sehe Oliver als einen Menschen einer neuen Generation, die sich auf zu neuen Ufern machen. Bei DIE VIERHÄNDIGE merkt man, dass es ein deutscher Film ist, der
sich mit jedem anderen messen kann.

DIE VIERHÄNDIGE kann man nicht mit einem anderen Film vergleichen…

OK: Das ist gut. In Kino kann man schwer etwas neues erfinden. Das erkennt man an den ganzen Remakes, die starten.

Lediglich Christoph erinnert mit seiner Rolle als Arzt an FEUCHTGEBIETE, wo er einen Pfleger spielte.

CL: Es war aber etwas völlig anderes. Der Rahmen war vielleicht ähnlich, aber das war’s auch. Ich habe mich im Vorfeld von FEUCHTGEBIETE mit einem Arzt beraten, wie man in einer Notsituation wirklich handelt. Aber das gehört zu meiner Arbeit dazu. Wenn der Zuschauer aufgrund von fachlicher Inkompetenz aussteigt, hat man schon
verloren. Zu Beginn gab es ganz viele Fragezeichen, die man auch inhaltlich erst einmal klären musste.

Oliver, hast Du dich im Vorfeld mit Ärzten und der Traumabewältigung im besonderen auseinandergesetzt, um dies im Film thematisieren zu können?

OK: Es gibt zwei medizinische Themen im Film. Trauma und Traumabewältigung kenne ich aus der eigenen Erfahrung. Das zweite Thema handelt von der multiple Persönlichkeit. Das was passiert, ist wahrhaftig. Am Ende kann man sich nicht für eine Persönlichkeit entscheiden, sondern muss beide miteinander kommunizieren lassen,
wodurch eine Verschmelzung entsteht. Wenn man es genau nimmt, ist die Abspaltung eine Schutzfunktion, die eigentlich in der Kindheit erfolgt. Wenn die frische Psyche in der Kindheit ein Trauma erfährt, versucht sich die Psyche durch die Abspaltung der Persönlichkeit und der Bildung einer neuen Persönlichkeit zu retten. Im Film passiert
dies der Figur erst im Alter von 25 Jahren, was meinerseits eine Behauptung ist. Es ist ein sehr spannendes Thema.

Der Film umspielt das Thema mit zwei Schwestern. Bestand jemals die Idee, die Filmhandlung nur mit Sophie allein zu erzählen?

OK: Von Anfang an bestand die Grundidee mit zwei Schwestern. Bei anderen Filmen wie beispielsweise FIGHT CLUB wird die multiple Persönlichkeit meist mit Imaginationen geklärt. Edward Norton imaginiert Brad Pitt im Raum und sie reden miteinander. Das wird am Ende als multiple Persönlichkeit hingestellt, was völliger Quatsch ist. Man wacht eher auf und weiß nicht, wie man dorthin gekommen ist.

Martin ist die Figur, an der sich der Zuschauer festhalten kann. Er hat selbst ein Trauma erlitten, das aber nur am Rande erwähnt wird. Hast Du eine persönliche Haltung zum Thema Trauma?

CL: Alle Menschen haben kleine Traumata in sich, egal ob es sich dabei um Liebe, Verlust oder Gewalt handelt. Bei jedem Menschen sind diese Themen unterschiedlich stark ausgeprägt, denke ich. Letztlich geht es darum, ein emotionales Gedächtnis wachzurufen, was zum Job eines Schauspielers gehört. Ich muss dies auch, wenn auch nicht für die Figur, weil Martins Geschichte nicht größer als die der Schwestern sein darf. Martins Background dient dem Verständnis von Sophie und ihren Gefühlen. Er kann erahnen, was sie durchmacht, ist aber als Arzt auch in einer beratenen Funktion. Dadurch wird er zu ihrer Schulter.

Warum heißt der Film DIE VIERHÄNDIGE? Wie entstand der Titel?

OK: Wer über den Titel nachdenken will, muss den Film sehen. Er verrät schon viel über die Handlung, gleichzeitig aber auch nicht. Er ist schon sehr abstrakt. Der Film zeigt nicht den Kampf der Schwestern gegeneinander, sondern ihr Zusammenkommen und da fand ich das Sinnbild mit dem Klavier sehr schön.

Der Film präsentiert die Gewaltbereitschaft – Gewalt erzeugt aber nicht Gegengewalt, sondern die Angst erzeugt die Gewalt. Die Gewalt lässt sich nachvollziehen. Aber es gibt eine Szene mit einer Gabel, bei der man schon schlucken muss.

OK. Oh ja, die Gabel (lacht)! Jessica demonstriert Martin auf eine sehr deutliche Art, dass er keinen Kontakt mehr zu Sophie aufnehmen darf.

CL: Als Friederike Becht an der Stelle vor mit stand und loslegte, war ich sehr beeindruckt. In diesem Moment spielte sie auf eine sehr überzeugende Art Angst und Eifersucht gleichzeitig. Die Gabelnummer war da irgendwie nur die notwendige Folge…

OK: Für solche Szenen haben wir Testscreenings um zu sehen, ob die Zuschauer diese Szenen verstehen oder ob es zu viel ist. Man tastet sich langsam an die schwierigen Szenen heran. Da verlässt man sich auf die Kommunikation mit dem Publikum.

Ich danke Euch beiden für das nette Treffen.

von Sandy Kolbuch

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