The Card Counter – Filmkritik

The Card Counter - Oscar Isaac
The Card Counter - Oscar Isaac © Lucky Number, Inc.

Die Kritik:

William Tell (Oscar Isaac) ist ein professioneller Spieler. Er reist von Stadt zu Stadt, spielt mit geringem Einsatz und ohne zu großes Risiko, um nirgendwo aufzufallen. Seine Fähigkeit, Karten zählen zu können, muss mit Bedacht genutzt werden. Doch William trägt auch Ballast mit sich, denn hinter seiner kontrollierten Fassade liegt ein Trauma. Dieses Trauma brachte ihn mehrere Jahre in den Knast, eine Zeit, die immer noch auf ihn und sein Handeln abfärbt. Seine minutiöse, fast schon rituelle Methodik und sein strikt geordneter Alltag werden ins Wanken gebracht, als er zunächst auf La Linda (Tiffany Haddish) trifft, die ihm anbietet, sein Poker-Sponsor zu sein. Dann tritt auch noch der junge Cirk (Tye Sheridan) auf, der es auf Williams ehemaligen Arbeitgeber Major John Gordo (Willem Dafoe) abgesehen hat. Gordo hat nicht nur einst den Ex-Soldaten William für seine „erweiterten Verhörtechniken“ in Abu Ghraib ausgebildet, sondern auch seinen eigenen Vater, der sich im Zuge dessen das Leben genommen hat…

The Card Counter - Filmplakat
The Card Counter – Filmplakat © Weltkino

„The Card Counter“ ist unmissverständlich ein Paul Schrader-Film: In klarer und schnörkelloser Bildsprache und mit rasiermesserscharfen und leicht stilisierten Dialogen ausgestattet, zeichnet Schrader eine weitere zutiefst existenzialistisch gefärbte Charakterstudie eines Einzelgängers, der trotz aller Selbstschutzmaßnahmen seinen Hang zur Selbstzerstörung und eine damit einhergehende Abwärtsspirale nicht stoppen kann. Damit reiht sich der Film nahtlos in sein Gesamtwerk ein. Überdeutliche Parallelen zu seiner Autorenarbeit bei „Taxi Driver“ kommen etwa zum Vorschein: So ist William zwar eine sozial weit sicher auftretende Person, jedoch ist es auch hier der Schutzinstinkt gegenüber einer jüngeren Person, die den Katalysator für eine fehlgeleitete Hilfestellung bildet. Seine eigene Regiearbeit „Light Sleeper“ mit Willem Dafoe schwebt sehr präsent über dem Film, nicht nur wegen des quasi identischen Endes (das er von Robert Bressons „Pickpocket“ übernommen und zuvor bereits in „American Gigolo“ angewandt hat), sondern auch wegen der atmosphärischen Klänge von Black Rebel Motorcycle Club-Sänger Robert Levon Been, der hier sehr ähnlich gespenstisch-eindringlich anmutende Musik beisteuert wie einst sein Vater Michael.

Wer also mit Schrader Œvre vertraut ist, der wird hier sofort mit wohligen und wenig subtilen Déjà-vus konfrontiert. Dass sich der profilierte Autorenfilmer hier gewissermaßen wiederholt, stört überhaupt nicht, denn letztlich geht Schrader durch einen ähnlichen zyklischen Kreislauf wie seine scharf gezeichneten Männerfiguren. Und hieran besteht kein Zweifel, „The Card Counter“ ist eine zutiefst faszinierende und soghafte Charakterstudie, die den aufgeschlossenen Zuschauer von der ersten bis zur letzten Sekunde in den Bann zieht. Das liegt unmissverständlich auch an einer meisterhaften und den Film tragenden Leistung von Oscar Isaac, dessen brütendes Charisma wahrlich magnetisch und intensiv ist. Isaac wäre eigentlich ein prädestinierter Oscar-Kandidat, jedoch scheint auch Schraders neuer Film ähnlich wie sein letzter großer Wurf „First Reformed“ mit dem nie besseren Ethan Hawke nicht gebührend ausgezeichnet zu werden.

„The Card Counter“ ist das Werk eines erfahrenen Filmemachers, der genau weiß, was er tut, wovon er spricht und der jederzeit in völliger Kontrolle über sein Material ist. Mit welch minutiöser Klarheit und poetisch anmutender Authentizität er mit Hilfe von Isaacs Erzählstimme zunächst den von Routine geprägten Gefängnisalltag und schließlich die Mechanismen von Blackjack schildert, fasziniert dank präziser, fast schon japanisch minimalistischer Bildsprache. Gepaart mit Beens und Giancarlo Vulcanos eindringlicher und sphärischer Musik dauert es hier nicht lange, bis man sich im Kopf von William befindet und die Welt mit seinen Augen und unter die Haut gehender Intensität wahrnimmt. Hier geht es darum, sich ein Bild dieses von Schuldgefühlen geplagten Antihelden über sein Aussehen und Verhalten zu bilden, ihn zu analysieren, ohne auf simple Erklärungen zu hoffen.

The Card Counter - Willem Dafoe
The Card Counter – Willem Dafoe © Lucky Number, Inc.

Es ist jedenfalls kein Zufall, dass William über ein perfekt manikürtes Äußeres verfügt oder dass er – in einem außergewöhnlichen inszenatorischen Kniff – jedes seiner Hotelzimmer bei Ankunft zunächst von jedem Wandschmuck befreit und sämtliche Möbelstücke mit eigens in einem Koffer mitgebrachten Leinentüchern Christo-artig akkurat einhüllt. Ist es sein Bestreben, seinen von wohligen Routinen geprägten Gefängnisaufenthalt zu rekonstruieren? Man kriegt einen Mann vielleicht aus dem Gefängnis, aber das Gefängnis nicht aus dem Mann. William, der natürlich nicht wirklich Tell mit Nachnamen heißt, strahlt in jeder Sekunde absolute Kontrolle aus, eine asketische Kontrolle, die er mühsam über einen langen Zeitraum aufgebaut hat, um jede seine Existenz bedrohende Schwäche im Keim zu ersticken.

Schrader inszeniert diesen Film mit langsam schwelender Fiebrigkeit, Ruhe und Intensität. Er beobachtet Williams Routine, sein undurchdringliches und höfliches Auftreten an den Spieltischen und an den Bars. Erst durch La Linda, der er bereits bei anderen Pokerspielen begegnet ist, lockert seine Fassade etwas auf. Wie Schrader hier dank seiner beiden fantastischen Darsteller*innen eine subtile Anziehungskraft zwischen zwei erwachsenen etwas verlorenen Seelen aufbaut, ist nichts anderes als sensationell. Ähnlich wie in „First Reformed“ zwischen Hawke und Amanda Seyfried baut er diese Spannung kaum merklich und derart unaufdringlich auf und entlädt sie schließlich so, dass es einem den Atem raubt. Hier findet Schrader zutiefst poetische und kathartische Bilder, die auch über eine unerwartete und verdiente Melancholie verfügen und zu dem Schönsten gehören, was das Kino in letzter Zeit zustande gebracht hat. Doch einfache Lösungen gibt es in der Welt von Paul Schrader nicht.

The Card Counter
The Card Counter: Willem Dafoe und Oscar Isaac
© 2021 Lucky Number, Inc.

Denn ein zentrales Thema dieses und vieler anderer seiner Filme ist die fehlgeleitete Suche nach Vergebung und moralischer Verantwortung. Eine Möglichkeit, seine Sünden als Folterknecht im US-Militärgefängnis zu vergeben, ergibt sich unerwarteterweise in dem ziellosen und von sinnlosen Rachegefühlen geleiteten Cirk. Diesen nimmt William zunächst unter seine Fittiche, reist mit ihm durch die Staaten von Casino zu Casino, ohne aber ein klischeehafter Mentor zu sein. Das ist nicht diese Art von Film, denn Klischees oder emotionale Manipulation umschifft Schrader im Stile eines weltmännischen Meisters. William möchte dem orientierungslosen Cirk mit seinen nahezu unausgesprochenen Mitteln helfen, sein Leben in den Griff zu bekommen, sich mit seiner entfremdeten Mutter zu versöhnen und von seiner naiven Vendetta abzukommen. Gewalt spielt in Schraders Filmen auf den Pfaden nach Vergebung meist eine Rolle, jedoch nicht, ohne auch einen hoffnungsvollen Blick zu wagen.

Viel mehr zu berichten, wäre an dieser Stelle unangebracht. Sicher, Schraders umfangreiches Werk ist wahrlich nicht frei von Schwächen. Dennoch ist diesem faszinierenden Filmemacher mit „The Card Counter“ und zuvor „First Reformed“ ein thematisch verwandter Doppelschlag gelungen, der ihn im Alter von 75 Jahren zu einem der aufregendsten und vielversprechendsten cineastischen Stimmen der Gegenwart macht.

Filmwertung
9/10

Kurzfassung

Faszinierende, fokussierte und von atemberaubender Klarheit geprägte existenzialistische Charakterstudie.

Fazit:

„The Card Counter“ ist nach „First Reformed“ ein weiterer Höhepunkt in der Spätphase von Paul Schraders Werk. Der profilierte Autorenfilmer liefert hier eine weitere faszinierende, fokussierte und von atemberaubender Klarheit geprägte existenzialistische Charakterstudie, die fulminant von einem sensationell magnetischen Oscar Isaac getragen wird. Kenner werden hier zwar viele Motive aus Schraders Jahrzehnte überdauerndem Werk wiederfinden, was der bestechenden Qualität dieses hervorragenden Films keinen Abbruch tut.


von Florian Hoffmann

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