Sommer 85 – nostalgisch angehauchtes Coming-of-Age-Drama

Alexis (Félix Lefebvre) und David (Benjamin Voisin) leben für den Moment.
Alexis (Félix Lefebvre) und David (Benjamin Voisin) leben für den Moment. © Wild Bunch Germany 2021

Die Kritik:

Eigentlich wollte Regisseur François Ozon bereits zu Beginn seiner Karriere aus Aidan Chambers Coming-of-Age-Roman „Tanz auf meinem Grab“ sein Erstlingswerk machen. Nun gut 35 Jahre später ist soweit: Ozon verlegt den Handlungsort von England in das Küstenstädtchen Le Tréport in der Haute-Normandie und nennt seinen spürbar persönlich gefärbten Film „Sommer 85“. Dieser Titel evoziert auch genau das, was es in Ozons 19. Spielfilm zu erwarten gibt: Nostalgisch gefärbte Sommergefühle, Sonne, Strand und Meer, das Gefühl junger Liebe. Der bittersüße Film erzählt das sexuelle Erwachen des 16-jährigen Alexis (Félix Lefebvre), der eines verhängnisvollen Sommers seine Liebe zu dem 18-jährigen David (Benjamin Voisin) entdeckt und sich in einem Wechselbad der Gefühle wiederfindet. Doch überschattet wird dieser schöne Sommer vom Tod Davids, aus dem von Anfang an kein Geheimnis gemacht wird. Wie es jedoch dazu kommen sollte, erfährt man erst in einem Ozon-typisch exzentrischen dritten Akt, der im starken Kontrast zur fast schon konventionellen Leichtigkeit der ersten beiden Drittel steht.

Sommer 85 - Plakat
Sommer 85 – Plakat © Wild Bunch Germany 2021

Die größten Stärken von „Sommer 85“ offenbaren sich schon schnell: Ozon hat sich für den Dreh mit Super-16-Kameras entschieden, wodurch der Film eine grobkörnige Textur erhält, die ihn fast schon wie aus den 80ern entspringen zu lassen scheint. Der Regisseur und sein Kameramann Hichame Alaouie erschaffen so eine dichte und nahezu greifbare Atmosphäre, die gepaart mit der vorgeführten charakteristischen Mode, den Frisuren sowie der Musik von The Cure, Rod Stewart oder Bananarama jede Menge authentische Stimmung aufkommen lässt. „Sommer 85“ wirkt ästhetisch wie eine intensiv erlebte, emotional aufgeladene, aber fragile Erinnerung, die in ihrer Flüchtigkeit präzise, aber auch ein Stück weit oberflächlich eingefangen wird. Doch Ozon ist dennoch nicht interessiert an plumper und dick aufgetragener zuckersüßer Nostalgie, all seine Inszenierungswerkzeuge sind angenehm subtil und stilvoll eingesetzt. Anders als in so vielen anderen Filmen, die die 80er behandeln, ist Ozons Ansatz zurückhaltender, aber nicht minder wirkungsvoll.

Doch neben der Zeit fängt Ozon auch den Ort des Geschehens mit viel Lokalkolorit ein. Le Tréport ist eben nicht ein typischer Urlaubsort am Meer, sondern auch eine Arbeiterstadt. Man spürt hier also sowohl die salzige Meeresbrise und die sommerliche Luft als auch den alt eingesessenen Alltag ganz normaler Menschen der französischen Arbeiterklasse.

Wunderbar sensibel, aber immer eine gewisse Spur distanziert beobachtet Ozon seinen zart anmutenden Protagonisten Alexis, der optisch ein wenig an River Phoenix erinnert. Ganz schnell lernt er zu Beginn den älteren David kennen, der ihn während eines Gewitters rettet, nachdem seine Jolle auf dem offenen Meer gekentert ist. Der dominante und selbstbewusste David, der fast schon wie ein großer Bruder wirkt, drängt sich dem unerfahrenen Alex förmlich auf, lädt ihn zu sich nach Hause ein, wo ihm seine herzliche wie neurotische Mutter (Valeria Bruni-Tedeschi) erst mal ein Bad einlässt, nachdem sie in einer peinlichen wie sonderbaren Szene seinen nackten Körper inspiziert hat. Die sexuelle Spannung und Anziehungskraft zwischen den beiden jungen Männern ist förmlich zu spüren. Alex gibt sich David hin und gemeinsam erleben sie einen denkwürdigen Sommer, den die beiden Liebenden am Strand, im Kino, auf dem Jahrmarkt, in der Disco, im Rausch der Geschwindigkeit auf dem Motorrad, aber natürlich auch im Bett verbringen.

Das britische Au-pair Kate (Philippine Velge) wird zu einer wichtigen Vertrauten von Alexis (Félix Lefebvre).
Das britische Au-pair Kate (Philippine Velge) wird zu einer wichtigen Vertrauten von Alexis (Félix Lefebvre). © Wild Bunch Germany 2021

All die Stimmungen und Gefühle fängt Ozon leichtfüßig und mit subtil eingestreuter Komik, aber auch immer einer unterschwelligen Melancholie ein. Denn Ozon lässt Alex von Beginn an rückblickend von diesem verhängnisvollen Sommer erzählen, bei dem David gestorben ist, wofür sich der zu Filmbeginn mit Handschellen abgeführte junge Protagonist in irgendeiner Weise verantworten soll. In Gesprächen mit seinem einfühlsamen Lehrer (Melvil Poupaud) und einer recht resoluten Sozialarbeiterin (Aurore Broutin) nähert sich der Film Stück für Stück der Hintergründe zu Davids Tod, wodurch Ozon eine subtil geheimnisvolle Spannung aufbaut.

Ozon beweist erneut seine Fähigkeiten als sinnlich-körperlicher Filmemacher, der jede zarte Berührung spürbar macht. Einer der Höhepunkte des Films ist sicher eine Disco-Szene, bei der Alex zu Rod Stewarts „Sailing“ mit Kopfhörern tanzt, während sich alle um ihn herum zu einem schnelleren Beat bewegen. Fast schon fühlt man sich hier an die Höhen des thematisch verwandten, aber auch weit besseren „Call Me By Your Name“ erinnert, wenn Armie Hammer zu „Love My Way“ von den Psychedelic Furs tanzt. Gewollt ist aber sicher eine Hommage an eine gleichgeartete Szene im französischen Kultfilm „La Boum“. Die Szene funktioniert, auch wenn sie nicht gerade originell erscheint.

David (Benjamin Voisin) setzt Alexis (Félix Lefebvre) während einer Party Kopfhörer auf, in einem unwirklichen Moment für sich auf der Tanzfläche fühlt dieser “I am Sailing” von Rod Stewart.
David (Benjamin Voisin) setzt Alexis (Félix Lefebvre) während einer Party Kopfhörer auf, in einem unwirklichen Moment für sich auf der Tanzfläche fühlt dieser “I am Sailing” von Rod Stewart. © Wild Bunch Germany 2021

Dass „Sommer 85“ nicht das ganz konventionelle Coming-of-Age-Drama ist, zeigt sich auch an seinen leicht morbiden Untertönen, die von Alex und Davids Obsession mit dem Tod herrühren. Während der etwas schräge Alex einfach nur fasziniert von dem Thema ist, ist David durch das Ableben seines Vaters auch persönlich betroffen und will vielleicht auch dadurch das Leben und seine Freiheit in vollen Zügen genießen. Nicht umsonst heißt die Romanvorlage „Tanz auf meinem Grab“, denn das ist Davids Wunsch, den er für den Fall seines Dahinscheidens an Alex äußert.

In seinem letzten Drittel offenbart „Sommer 85“ dann einige holprige Schwächen und gerät zunehmend aus den erzählerischen Fugen. Sobald Ozons exzentrische und verspielte Ader hier dominanter zum Vorschein kommt, verliert der Film nicht nur an Charme und Reiz, seine Figuren, insbesondere Alex, erscheinen befremdlich und distanziert in ihrem Handeln. Ohnehin hat man immer wieder das Gefühl, dass Ozon seinen Figuren mehr Tiefe und Profil hätte geben können. Gerade am Ende mag der Film zwar unkonventionell und wie von Ozon gewohnt leicht überhöht sein, zu einem emotional zufrieden stellenden und schlüssigen Finish gelangt er so allerdings nicht. Immerhin, Ozon traut sich was und spielt nicht auf Nummer sicher, womit er auch hiermit einer der interessanteren Filmemacher der Gegenwart bleibt und „Sommer 85“ einen Platz im erweiterten Coming-of-Age-Kanon verdient hat.

Filmkritik
6.5/10

Kurzfassung

Ein über weite Strecken sehenswertes, nostalgisch angehauchtes Coming-of-Age-Drama.

Fazit:

Über weite Strecken gelingt Regisseur François Ozon mit „Sommer 85“ ein sehenswertes nostalgisch angehauchtes Coming-of-Age-Drama, das vor allem durch seine dichte Atmosphäre sowie seine Körperlichkeit und Sinnlichkeit überzeugt. Ein zunehmend exzentrischer und zerfaserter dritter Akt lassen den bittersüßen, aber auch etwas halbgaren Film dann jedoch leider zur unerwarteten Geduldsprobe werden.


von Florian Hoffmann

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