I, Tonya – Filmkritik: Biopic über die Eishexe

Tonya (Margot Robbie) landet als erste Amerikanerin den Dreifachaxel
Tonya (Margot Robbie) landet als erste Amerikanerin den Dreifachaxel © DCM

Die Kritik:

I, Tonya Plakat
I, Tonya Plakat © DCM

„I, Tonya“ beginnt mit der Texteinblendung „Basierend auf ironiefreien, enorm widersprüchlichen und absolut wahren Interviews mit Tonya Harding und Jeff Gillooly“. Hier wird so direkt etabliert, dass Regisseur Craig Gillespie und Drehbuchautor Steven Rogers gar nicht erst versuchen, dem Zuschauer vorzumachen, dass in diesem angenehm unkonventionellen Biopic die ultimative Wahrheit erzählt wird. Immer wieder wenden sich die Figuren direkt zur Kamera und sagen Dinge wie „DAS habe ich nicht getan“. So bezieht der Film unterschiedliche Perspektiven der Beteiligten ein und erzählt die Geschichte über die berüchtigte US-Eiskunstläuferin Tonya Harding somit genau so verrückt, wie sich die wahnwitzige Realität wohl angefühlt haben muss. Fakten gibt es hier schon, doch so viel hier basiert auf voneinander abweichenden Geschichten, dass man wohl nie wissen wird, wie sich einige der Dinge, über die in den Neunzigern omnipräsent in den Medien berichtet wurden, abgespielt haben. So widersprechen sich die Interviews immer wieder zu humoristisch-pointiertem Effekt, etwa von Harding und ihrem Ex-Mann Jeff Gillooly, die zu den gleichen Ereignissen oft völlig gegensätzliche Erinnerungen und Meinungen haben.

„I, Tonya“ beginnt mit diesen nachgestellten Interviews, darunter auch mit Hardings überlebensgroßer, dauerfluchender und -rauchender Mutter LaVona (Allison Janney) und ihrem herrlich dumpfen „Ex-Bodyguard“ Shawn Eckhardt (Paul Walter Hauser), und streut diese auch immer wieder im Verlauf des Films ein. Wer in den Neunzigern die Medienlandschaft verfolgt hat, der kennt die Geschichte von „Trashy Tonya“, die zwischenzeitlich wohl zu den bekanntesten Menschen der Welt gehört hat. Nur wenige Wochen vor den Olympischen Winterspielen 1994 in Lillehammer hatte Nancy Kerrigan, Hardings größte Konkurrentin aus eigenen Reihen, nach einem Trainingslauf in Detroit von einem zunächst unidentifizierten Angreifer einen heftigen Schlag aufs Knie bekommen, der zunächst verhinderte, dass sie bei den nationalen Meisterschaften antreten konnte – die Harding schließlich gewann. Die Attacke roch schwer nach Sabotage und hatte einen nahezu ungesehenen Wahnsinn in den Medien hervorgerufen. So nannte die New York Times den Vorfall etwa einen der „größten Skandale der Sportgeschichte“.

Tonyas Mutter LaVona Golden (Alisson Janney)
Tonyas Mutter LaVona Golden (Alisson Janney) © DCM

Weder zuvor noch danach sorgte Eiskunstlauf für ein derartiges Interesse in den Medien und der Bevölkerung, jede namhafte Publikation von Time bis Newsweek zierte eine Weile lang entweder das Antlitz von Kerrigan oder Harding, bis der Wettkampf bei den Olympischen Spielen schließlich zu einem der meistgesehenen Fernsehevents der US-Geschichte avancierte. Die genauen bzw. die weitestgehend bekannten Hintergründe dieses legendären „Vorfalls“ inklusive seines unglaublichen Vor- und Nachspiels liegen im Fokus der zweiten Hälfte dieses sensationellen Films, der noch mehr als seine drei Oscar-Nominierungen verdient hätte.

Doch wie der brillante Titel schon andeutet, liegt hier ganz klar der Fokus auf der ewig missverstandenen Tonya Harding, die zur Persona non grata wurde und seit über zwanzig Jahren um öffentliche Wiedergutmachung kämpft. Aufgewachsen in sehr bescheidenen Verhältnissen in Oregon, triezte ihre Mutter sie schon mit gerade mal drei (!) Jahren unbarmherzig in Richtung Eiskunstlaufkarriere – ein Bereich, der sonst vom reichen Establishment bevölkert wird. So hatte die unzweifelhaft hochtalentierte und verbissene Tonya schon von Beginn an einen Nachteil, denn sie entsprach nicht dem Ideal der geleckten Primaballerina, die sich, wie es Harding im Film amüsanterweise beschreibt, wie eine „bekloppte Zahnfee“ anzieht. Hier wird anstatt zu klassisch-dramatischer Musik eben zu ZZ Top geskatet, was zu Beginn ihrer Karriere trotz, wie hier atemberaubend und enorm dynamisch bebildert, phänomenalem, technisch versiertem und leidenschaftlichem Eiskunstlauf, zu konsequenten Abzügen seitens der versnobbten Punktrichter führt – wie auch ihr selbstgenähtes Kleid.

Tonya (Margot Robbie) jubelt über ihre Punktzahl, nachdem sie den Dreifach-Axel gesprungen ist
Tonya (Margot Robbie) jubelt über ihre Punktzahl, nachdem sie den Dreifach-Axel gesprungen ist © DCM

„I, Tonya“ führt durch das Leben von Tonya Harding von ihrem dritten bis zum ca. 40. Lebensjahr und liefert dabei brillante, wilde und atemlose Unterhaltung, die mitreißt und mit schwarzem Humor immer wieder pointierte Lacher erzeugt. Hier wird frei Schnauze geredet, vor allem von LaVona, die mit ihren bitterbösen und frechen Kommentaren einem das Lachen gerne im Halse stecken lässt, so verletzend und kaltherzig ist sie konsequent zu ihrer Tochter. Was die arme Kellnerin zu dem gemacht hat, was sie ist, deutet der Film höchstens an. Ist es ihr eigenes Versagen, dass sie dazu bringt, ihre Tochter emotional und körperlich zu missbrauchen? Gillespie überlässt das dem Zuschauer, jedoch ist es der herausragend komischen Allison Janney zu verdanken, dass ihre brillant exzentrische Darstellung voller präziser Manierismen nicht zur Karikatur verkommt. Ihr gelingt es sogar inmitten dieser feurigen Oscar-gekürten Performance immer wieder ganz subtile und unausgesprochene Anflüge von Menschlichkeit einzubauen, die gerade so unter der Oberfläche wabern.

Doch der Film gehört natürlich ganz klar seiner berüchtigten Titelfigur, die in einer herausragenden und offenbarenden bisherigen Karrierebestleistung von Margot Robbie atemberaubend portraitiert wird. Sie legt hier alles in eine absolute Power-Performance, die nicht nur eine große emotionale Bandbreite offenbart, sondern auch glaubwürdig Harding sowohl als 15-jährige als auch als 40-jährige darstellt. Robbie ist eine magnetische Präsenz, von der man die Augen nicht nehmen kann. In ihrer Darstellung der Ereignisse ist sie eine Frau, die stets gegen ihre Umstände mit aller Gewalt ankämpfen musste und trotz unzweifelhafter Leistung nie den Weg ins Establishment finden konnte, vielleicht gerade, weil sie sich selbst konsequent treu blieb. Doch auch Sebastian Stan erweist sich als große Überraschung, denn so wie in der Rolle von Jeff Gillooly konnte er bislang nicht glänzen. Auch hier ist die Bandbreite groß und was in anderen Händen leicht auch als überspielte Karikatur oder gar eindimensionaler Bösewicht verkommen kann, erscheint hier als komplexe und erstaunlich menschliche Darstellung.

Jeff (Sebastian Stan) und Tonya (Margot Robbie)
Jeff (Sebastian Stan) und Tonya (Margot Robbie) © DCM

Die tumultartige Beziehung von Harding und Gillooly, die sich bereits als Teenager kennengelernt haben, steht hier immer wieder im Mittelpunkt. Vom ersten Date, bei dem LaVona amüsanterweise dabei ist und mit kernigen Sprüchen für unbequeme Lacher sorgt, über eine verfrühte Hochzeit bis zum „Vorfall“ zeigt sich eine Beziehung im ständigen Hin und Her zwischen fürsorglicher Liebe und gewalttätigem Missbrauch. Gillooly wird hier als einfacher und sicher auch einfältiger Typ portraitiert, Stan gibt ihm jedoch immer Dimension, die andeutet, dass sich ein echtes menschliches Wesen mit komplexen Gefühlen unter der Oberfläche verbirgt. So geht es dem Zuschauer fast wie Harding, die trotz Gilloolys Schlägen (die sie auch gerne erwidert) immer wieder zu ihm zurückkommt, ihm vergibt und ihn nie ganz hassen kann – bis zu einem gewissen Punkt natürlich. Stan hätte eine Oscar-Nominierung jedenfalls genauso verdient wie seine beiden Kolleginnen.

Gillespie, der zuvor mit seiner Independentperle „Lars und die Frauen“ für Aufsehen gesorgt hat und später mit eher anonymen Großproduktionen wie „The Finest Hours“ leicht enttäuscht hat, präsentiert sich hier von einer überraschenden und bislang nicht gesehenen Seite. „I, Tonya“ erinnert mit seiner dynamischen und kinetischen Kameraführung, seinem herausragenden, primär Rock-basierten Soundtrack und seinem schmissig-schwungvollen Schnitt an Scorsese-Klassiker wie „Goodfellas“, ohne aber wie so viele andere je wie eine billige Kopie zu wirken. Im Gegenteil, „I, Tonya“ wirkt erstaunlich frisch und originell in seiner atemlosen und elektrisierenden Herangehensweise. Gillespie erzählt diese absurde und unglaubliche Geschichte trotz seines schwarzhumorigen Tons auch immer mit einem starken Gespür für seine Figuren, womit er den Film nicht nur menschlich, sondern auch wahrhaftig inszeniert. Überhaupt ist es Gillespie hoch anzurechnen, dass er trotz all der versammelten schrägen Figuren nie herablassend wirkt. Das macht immer Spaß, sagt aber auch ohne erhobenen Zeigefinger etwas über die amerikanische Klassengesellschaft, die eben nicht immer zulässt, dass auch Underdogs wie Tonya Harding das Ansehen bekommen, das sie verdienen – oder eben auch nicht, je nachdem welcher Version der Ereignisse man hier glauben möchte.

Filmwertung
9/10

Kurzfassung

I, Tonya ist wild, frech, energiereich und mitreißend. Ein außergewöhnliches Biopic über Amerikas berüchtigtste Eiskunstläuferin Tonya Harding.

Fazit:

Wild, frech, energiereich und mitreißend – „I, Tonya“ ist ein außergewöhnliches Biopic über Amerikas berüchtigtste Eiskunstläuferin Tonya Harding, die herausragend und mit magnetischer Präsenz von Margot Robbie portraitiert wird. Die unglaubliche und absurde Geschichte wird mit giftig-hintergründigem Humor, aber auch durchdringender Menschlichkeit erzählt, während die visuelle Inszenierung oft atemberaubend dynamisch ist. Top!


von Florian Hoffmann

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