Bones and All – Filmkritik

Timothée Chalamet als Lee and Taylor Russell als Maren in BONES AND ALL
Timothée Chalamet als Lee and Taylor Russell als Maren in BONES AND ALL © 2022 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. / Credit: Yannis Drakoulidis

Die Kritik:

Es ist fast schon ein Wunder, wie es auch im risikoscheuen Kino heutzutage noch möglich ist, dass ein Studio wie MGM einen derart eigenartigen und eigenwilligen Film wie „Bones and All“ produziert. Das mag Hauptdarsteller und Produzent Timothée Chalamet zu verdanken sein, der hier nach „Call Me By Your Name“ erneut mit Arthouse-Darling Luca Guadagnino zusammenarbeitet. Der Italiener inszeniert hier auf Basis von Camille DeAngelis gleichnamigem Roman eine nur schwer greifbare, aber außergewöhnliche Mélange aus Kannibalen-Horror, Road Movie und Coming-of-Age-Geschichte mit romantischen Zügen, die einiges vom aufgeschlossenen Zuschauer abverlangt.

Bones and All - Hauptplakat
Bones and All – Hauptplakat © Warner Bros. / Metro-Goldwyn-Mayer Pictures

Im Mittelpunkt der irgendwann im Reagan-USA der 80er Jahre angesiedelten Geschichte steht die 18-jährige Maren (Taylor Russell), die mit ihrem Vater (André Holland) durch die Staaten zieht. Anschluss findet die schüchterne Maren durch ständige Ortswechsel nur schwer, woran sie allerdings nicht gerade unschuldig ist, wie sich früh zeigen wird. In der ersten Viertelstunde präsentiert sich Guadagnino erneut als einer der sinnlichsten Filmemacher unserer Zeit: Hier nähert sich Maren einer Schulkameradin beim ganz unschuldigen gemeinsamen Übernachten bei Freundinnen an, doch Guadagnino versteht es meisterlich dem Zuschauer ganz unerwartet den Boden unter den Füßen wegzuziehen und ganz und gar entweder die volle Aufmerksamkeit zu genießen oder manche Zuschauer zur Flucht zu bewegen.

Immer wieder prallen in „Bones and All“ Kontraste aufeinander: Da wird ein schmaler Grat zwischen Faszination und Abstoßen ebenso gehalten wie zwischen Zärtlichkeit und Gewalt. Maren zieht irgendwann ohne ihren Vater weiter und trifft als einsame Einzelgängerin auf gleichgeartete Menschen, die alle ein ähnliches Geheimnis in sich tragen: Sie sind Kannibalen. In der neben der wundervollen Russell zweifelsohne denkwürdigsten Performance ist Oscar-Gewinner Mark Rylance als zutiefst unheimliche kannibalistische Möchtegern-Vaterfigur Sully zu sehen. Als spürbar verlorene Seele will man schon fast Mitleid mit dieser sonderbaren Kreatur haben, die Marens Freundschaft sucht und scheinbar zunächst durch gemeinsamen Leichenschmaus auch findet. Doch Maren hat eigene Pläne und reist weiter, wobei sie auf den dandyhaften Kannibalen Lee (Timothée Chalamet) trifft, der ebenfalls umherstreunt. Rylances skurrile Präsenz und Ausstrahlung ziehen enorm in den Bann und lassen es einem immer wieder eisig den Rücken runterlaufen, weshalb eine erneute Oscar-Nominierung nicht allzu abwegig erscheint.

Herz des Films ist dann aber das Aufeinandertreffen von Maren und Lee. Ganz anders als mit Maren und Sully stehen sich hier zwei kompatible verlorene Seelen gegenüber, deren Anziehung Guadagnino bewusst subtil und zurückhaltend inszeniert. Ein wenig ist das wie eine Zweckgemeinschaft, bei der man voneinander profitiert und gleichzeitig auch einfach nicht ganz so alleine ist. „Bones and All“ kommt nach dem vielversprechenden Anfang in seinem Mittelteil ein wenig zum Stillstand, auch wenn das ungewöhnliche Duo von Staat zu Staat zieht und auf andere Außenseiter trifft. Das einzige Ziel, das Maren aber wirklich verfolgt, ist ihre Mutter ausfindig zu machen, die sie nie kennengelernt hat und dabei auch zu einer Erkenntnis darüber zu kommen, warum sie ist, wie sie ist.

Taylor Russell als Maren in BONES AND ALL
Taylor Russell als Maren in BONES AND ALL © 2022 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. / Credit: Yannis Drakoulidis

Wo es dem Film ein wenig an narrativem Zug fehlt, überwältigt er mit großartigen filmischen Werten: In einem fast schon rebellisch anmutenden Zug verklärt Guadagnino – anders wie es heute allgegenwärtig üblich ist – die 80er nicht zur bunten Nostalgiewelt, sondern zeichnet ein zutiefst ehrlich und grundiert gezeichnetes Amerika ohne jeden Glanz. Guadagnino und seinem Team gelingt es jedoch nicht nur, die 80er mit vielen Details lebendig zu gestalten: Sein junger Kameramann Arseni Khachaturan erschafft eine texturierte Film-Ästhetik und gedämpfte Farblichkeit, die den Film anmuten lässt, als wäre er tatsächlich in besagtem Jahrzehnt entstanden. Guadagnino, Khachaturan und Szenenbildner Eliot Hofstetter erschaffen mit „Bones and All“ ein fotografisches Abbild der unterschiedlichen Staaten mit der poetischen Tiefe und Wahrhaftigkeit großer amerikanischer Künstler wie Edward Hopper oder William Eggleston. Sie finden eine merkwürdige Schönheit in der abbröckelnden Tristesse, im riechbaren Mief der Vergangenheit. So erweist sich der Film als zutiefst sinnliches und greifbares Erlebnis, das man nicht allzu leicht abschütteln kann.

Doch ganz entscheidend an diesem zutiefst atmosphärischen Stimmungsbild ist dieses immer spürbare Gefühl der Melancholie, Ödnis und Einsamkeit. Hier werden Figuren gezeigt, die in dieser unendlichen Weite körperlich wie seelisch verloren sind, Einzelgänger, die meist erfolglos nach Halt und Anschluss suchen. Es bleibt einem fast nichts anderes übrig, als in dem Motiv des Kannibalismus nach sinnbildlich aufgeladenen Metaphern zu suchen: Diese Ausgestoßenen, die da durchs Land reisen, passen nicht in die Norm und leiden an ihrer Andersartigkeit, die sie eben nicht einfach wegdrücken können. Dass die mit ihrem notwendigen, aber zerstörerischen Trieb Schaden anrichten, sorgt für einen immer währenden Konflikt, der nicht gelöst werden kann. Marginalisierte Außenseiter der Gesellschaft können sich so wahrscheinlich nur unschwer mit diesen an sich nur schwer greifbaren Figuren identifizieren.

Timothée Chalamet als Lee in BONES AND ALL
Timothée Chalamet als Lee in BONES AND ALL © 2022 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. / Credit: Yannis Drakoulidis

„Bones and All“ ist ein Film, den man nur schwer klassifizieren kann: Guadagnino geht jedenfalls durchaus weit, was Ekel und Gewaltdarstellung angeht. So sind hier ganz klare Horrorzüge zu erkennen – man muss keinen Hehl darum machen, dass dieser Film, so sinnlich wie er in manchen Momenten auch sein mag, eine oft grenznahe, verstörende wie unangenehme Erfahrung darstellt. Guadagnino zeigt viel Blut, klaffende Wunden, abgenagte Knochen und vor allem lässt er immer wieder dank unangenehmer Schmatz- und Stöhngeräusche den Horror auch im Kopf der Zuschauer entstehen. Lange hält Guadagnino in seinen sparsam verteilten Horrormomenten zwar nie drauf, doch die stark taktile Körperlichkeit seiner Inszenierung sorgt für einen deutlichen Effekt. Dennoch: Irgendwie hat dieser Film immer Klasse und Eleganz, sodass man einfach kaum anders kann, als sich von dieser sonderbaren Geschichte fangen zu lassen.

Filmwertung
7.5/10

Kurzfassung

Sehr unkonventionellen Liebesgeschichte.

Fazit:

„Bones and All“ erreicht sicher nicht ganz die Klasse von „Call Me Bay Your Name“, jedoch beweist Regisseur Luca Guadagnino auch mit dieser sehr unkonventionellen Liebesgeschichte, dass er zu den besondersten und eigenwilligsten Stimmen des Gegenwartskinos gehört. Das Kannibalismus-Thema gepaart mit Guadagninos sinnlich-körperlicher Inszenierung wird dem ein oder anderen Zuschauer aber sicher auf den Magen schlagen.


von Florian Hoffmann

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. (Kommentar wird erst geprüft)


*