Filmkritik zu Abteil Nr. 6

Abteil Nr. 6 - Laura am Fenster
Abteil Nr. 6 - Laura am Fenster © eksystent Filmverleih

Die Kritik:

Die finnische Archäologiestudentin Laura lebt Ende der 1990er-Jahre in Moskau. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Irina plant sie eine Zugreise in den äußersten Norden Russlands, die Oblast Murmansk. Ihr Ziel sind die Kanosero-Petroglyphen, eine Reihe erst kürzlich entdeckter antiker Felszeichnungen. Als Irina ihr Mitreise überraschend absagt, ist Laura gezwungen sich ein enges Zugabteil mit dem russischen Bergbauarbeiter Ljoha zu teilen. Zunächst ist sie empört von seinem unflätigen Benehmen, doch im Verlauf der gemeinsamen Reise entwickelt sich eine eigentümliche Beziehung zwischen diesen beiden Fremden, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Abteil Nr. 6 - Filmplakat
Abteil Nr. 6 – Filmplakat © eksystent Filmverleih

Irgendwann kurz vor dem Abspann stehen die beiden Protagonisten von Abteil Nr. 6 am Ende der Welt – irgendwo auf einer kleinen Insel im ewigen russischen Eis, vor einem tiefblauen arktischen Ozean, an einem der nördlichsten Punkte Europas. Für einen Moment wird es ganz still, nur der Wind zieht heulend durch die karge Landschaft und Wellen schlagen schäumend auf die flache Steinküste. Irgendwann bricht Ljoha die Stille, fragt, ob es das jetzt war, und Laura antwortet in ihrem unverkennbaren finnischen Akzent: „Da.“. Es ist der erstaunlich unaufgeregte Kulminationspunkt einer Reise von zwei Menschen, die einander fremder kaum sein könnten, eine Reise, die ihren Anfang im post-sowjetischen Moskau der 90er-Jahre nimmt, ihre Zuschauer in das stickige Abteil einer russischen Eisenbahn führt, von hier aus vorbei an Sankt Petersburg, unerbittlich gen Norden, entlang der russisch-finnischen Grenze, vorbei an vergessenen russischen Dörfern, durch eine menschenfeindliche arktische Tundra bis in das kalte Herz der Oblast Murmansk. Diese Reise ist vor allem auch eine Reise in eine andere Zeit – in das letzte analoge Jahrzehnt und die zerfallene Sowjetunion, eine prädigitale postsozialistische Zwischenwelt aus beigen Wahlscheibentelefonen, Walkmans und scheinbar unüberwindbaren Sprach- und Kulturbarrieren.

Abteil Nr. 6 ist der zweite Spielfilm des finnischen Regisseurs Juho Kuosmanen (Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki) und beruht auf dem gleichnamigen Roman der finnischen Schriftstellerin Rosa Likson. Für seine Adaption hat Kuosmanen an Liksons Geschichte von zwei Fremden, die sich auf einer unwegsamen Zugreise durch Russland näherkommen, einige Änderungen vorgenommen. So wurde die Handlung von den späten 1980er- in die 1990er-Jahre versetzt – also gewissermaßen von der sterbenden in die verstorbene Sowjetunion – und aus einer 7-tägigen Reise ostwärts in die Mongolei wurde eine 2-tägige nordwärts nach Murmansk. Interessant ist dieser Wechsel der (narrativen) Fahrrichtung insofern, als dass eine Reise von Moskau nach Murmansk, anders als eine Reise in die Mongolei, die Fahrt entlang einer Grenze ist, namentlich der Finnisch-Russischen. An dieser Grenze und in den umliegenden Gebieten kam und kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen den beiden Seiten, hier prallen Demokratie und Autokratie, Regional- und Weltmacht in fast menschenleeren Landstrichen immer wieder gewaltsam aufeinander. Die Geschichte von Finnland und Russland ist untrennbar miteinander verwoben: Finnland war im 19. Jahrhundert eine russische Republik, die beiden Länder lagen einst im Krieg miteinander und ihr Verhältnis ist nach dem Ende der Sowjetunion und auch heute noch zutiefst ambivalent und fragil.

Abteil Nr. 6 - Hafen
Abteil Nr. 6 – Hafen © eksystent Filmverleih

Ganz ähnlich scheint es anfangs auch den Protagonisten von Abteil Nr. 6 zu ergehen. Beide stammen aus grundverschiedenen Welten, und zunächst prallen diese Welten gleichsam mit voller Wucht aufeinander und es scheint zu diesem Zeitpunkt völlig unmöglich, dass die beiden sich jemals aneinander annähern, geschweige denn sich ineinander verlieben könnten. Aber Menschen sind nun mal keine Länder und wenn sie auch manchmal als Reflexion derselben erscheinen mögen, dann ist das doch stets nur eine Momentaufnahme, die, wenngleich prägsam, niemals der häufig so widersprüchlichen und ambigen Komplexität echter Menschen gerecht wird. Abteil Nr. 6 scheut diese Komplexität nicht nur nicht, es macht sie zum Mittelpunkt der filmischen Erfahrung. Am Anfang wird noch auf amüsante Weise die gesamte Palette von Vorurteilen gegen den russischen Gopnik ausgespielt, so sehr, dass es dem Zuschauer schwerfällt, nicht zu meinen, bereits alles über diese unerträgliche Person, über Ljoha, zu wissen. An dieser Stellte beginnt eine allmähliche Dekonstruktion der russischen Schablone. Aus dem ungehobelten, sexistischen und hinterwäldlerischen Russen wird in vielen kleinen Schritten plötzlich ein echter Mensch. Kuosmanen bestreitet diesen Weg kinematografisch mit vielen stillen Momenten, sperrt seine Figuren mal in einen beengten Zug und gibt ihnen dann in den verschneiten Landschaften wieder besonders viel Raum, um sich auf der Leinwand frei zu bewegen, er bettet sie ein in die unbändige Natur Russlands, die da, wie die Dekonstruktion Ljohas selbst, rhythmisch, in einem beständigen Strom an den beiden Protagonisten vorbeizieht, bis die beiden unversehens am Ende ihrer Reise angelangt sind, in Murmansk, im russischen Niemandsland, und Ljoha endlich Ljoha ist.

Abteil Nr. 6 - im Abteil
Abteil Nr. 6 – im Abteil © eksystent Filmverleih

Eine besonders schöne und eingängige Szene (und hiervon gibt es in Abteil Nr. 6 tatsächlich einige, so zum Beispiel auch eine eindrucksvolle, beinahe meditative Kamerafahrt in das Schneegestöber hinter dem fahrenden Zug) ist als Laura Lyosha umarmt und Lyohas steinerner Blick unter dieser langen Umarmung irgendwann ganz weich wird und seine Augen sich mit Tränen füllen. In dieser sehr selbstbewussten Szene, in der Intimität des kleinen Schlafabteils, in dem es fast vollkommen still ist, wo alles, was man hört, das rhythmische „Dadamm-dadamm“ des Zuges ist, wird unversehens unendlich viel Schmerz sichtbar, und er kommt von eben jener Person, von der man es am wenigsten erwartet, der man es am wenigsten zugetraut hatte. Abteil Nr. 6 überrascht immer wieder auf diese warme und zutiefst menschliche Art und Weise. Der Film ist ein emphatisches, ja im Grunde genommen zutiefst aufklärerisches Plädoyer im Sinne Lessing, dafür einander bedingungslos kennenzulernen, – und so abgedroschen es auch klingen mag – allem Fremden mit Toleranz und Liebe zu begegnen, sich selbst im vermeintlichen Feind und Liebe an den verlassensten Orten zu entdecken.

Es gibt noch so viel mehr in Abteil Nr. 6, über das es sich zu sprechen lohnen würde – zum Beispiel den Aspekt der Einsamkeit in der vordigitalen Welt oder den gekränkten russischen Stolz nach der Niederlage im Kalten Krieg. Nicht umsonst hat der Film bei den Internationalen Filmfestspiele von Cannes den Grand Prix gewonnen und Finnland ihn als seinen Beitrag für die Oscarverleihung 2022 in der Kategorie Bester Internationaler Film eingereicht. Auch der Soundtrack passt mit dem Eurodance-Klassiker Voyage, Yoyage von Desireless perfekt zu der Zeit, weckt nostalgische Sehnsüchte und unterstreicht zugleich die hoffnungsvolle und lebensbejahende Botschaft von Abteil Nr. 6.

Filmwertung
8/10

Kurzfassung

Gefühlskino mit Tiefgang

Fazit:

Abteil Nr. 6 ist Gefühlskino mit Tiefgang. Eine Reise in eine andere Zeit, grade nah genug, um sich selbst wiederzuerkennen, grade fern genug, um zu träumen.


von Jan Niklas Breuer

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