Nerve – Bist du Player oder Watcher?

Nerve - Emma Roberts und Dave Franco
Nerve - Emma Roberts und Dave Franco - © STUDIOCANAL GmbH

Die Kritik:

Bist du ein Watcher oder ein Player? Das ist die Frage, die im überraschend gelungenen Thriller „Nerve“ immer wieder im Mittelpunkt steht. Doch hierbei geht es sicher nicht nur um die beiden Auswahlmöglichkeiten bei dem titelgebenden Online-Game, sondern auch um den Zuschauer selbst. Ist man passiv oder aktiv? Ist man Voyeur oder stürzt man sich lieber selbst ins Getümmel, um so richtig zu leben? Den beiden „Paranormal Activity 3“-Regisseuren Henry Joost und Ariel Schulman ist mit „Nerve“ ein effektiver und aufregender Film gelungen, der so sehr am Puls der Zeit liegt, wie lange kein Film mehr. Die allgegenwärtige Obsession mit sozialen Medien, ständigem Online-Sein, Berühmtheitswahn, sich selbst in den Mittelpunkt stellen und dem Zwang, sich mit anderen vergleichen und messen zu wollen, wird in wilden und erfindungsreichen neondurchfluteten Bildern überaus treffend eingefangen, (fast) ohne einen moralischen Zeigefinger zu erheben. „Nerve“ ist spannend und mitreißend inszeniert, fällt aber bei seinem holprigen und überstürzt wirkenden Ende etwas auseinander.

Nerve - Blu-ray Cover
Nerve – Blu-ray Cover – © STUDIOCANAL GmbH

Venus „Vee“ Delmonico (Emma Roberts) steht kurz vor ihrem High School-Abschluss, als sie durch ihre Freundin Sydney (Emily Meade) von dem neuen Online-Reality Game „Nerve“ erfährt. Als „Player“ hat man dort die Möglichkeit, an einer Art Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel teilzunehmen, bei dem es allerdings nur Pflicht gibt. Man wird also quasi aufgefordert, Mutproben anzunehmen, während man sich selbst mit der Handycam vor einem Live-Publikum, das aus zahlenden „Watchern“ besteht, dabei aufnimmt. Für jedes bestandene Spiel gibt es Geldpreise, die beiden erfolgreichsten Player mit den meisten Zuschauern kommen schließlich ins Finale. Die eher schüchterne Vee wird von Sydney zu mehr Risiko in ihrem Leben ermutigt, weshalb sie ihrer Neugier (und dem Gruppenzwang) nachgibt und sich schließlich auch bei „Nerve“ anmeldet. Aus anfänglich eher harmlosen Mutproben, bei der Vee auf den Player Ian (Dave Franco) trifft, werden jedoch schließlich immer verrücktere und riskantere Herausforderungen…

„Nerve“ gelingt es von den ersten Sekunden an, das Gefühl online zu sein so anschaulich und realistisch darzustellen, wie es selten einem Film zuvor gelungen ist. Nicht nur die Benutzeroberflächen mit zahlreichen bekannten Markennamen sorgen für einen hohen Wiedererkennungswert, sondern eben auch das sich aufbauende Gefühl von Reizüberflutung wird überzeugend dargestellt. Bis auf wenige dramaturgisch bedingte Ausnahmen repräsentiert man die Online-Welt und ihre Funktionsweisen angenehm authentisch. Joost und Schulman inszenieren das entsprechend rasant und energiereich in einem audiovisuellen Rausch, der schnell in seinen Bann zieht. Auch das mysteriöse Spiel ist angesichts des bereits vergangenen Hypes um „Pokémon Go“ durchaus etwas, das nicht allzu fern von der heutigen Realität zu liegen scheint. Wie Vee wird man schnell von „Nerve“ mitgerissen, ohne, dass man Zeit hat, viel darüber nachzudenken. Emma Roberts und Dave Franco sind ein sehr gut aufgelegtes, charismatisches und hervorragend harmonisierendes Leinwand-Duo, dem man gerne folgt und um das man sich schließlich auch fürchtet.

Nerve - Emma Roberts
Nerve – Emma Roberts – © STUDIOCANAL GmbH

Joost und Schulman geben „Nerve“ nicht nur einen rasanten und fast schon rauschartigen Rhythmus, sie inszenieren ihren Film auch erstaunlich aufregend und unvorhersehbar. Ein Highlight ist etwa eine intensive Motorrad-Sequenz mitten durch New York City, die einem mit ihrem überwältigenden Realitätsgefühl tatsächlich den Atem raubt. Die Stunts in „Nerve“ fühlen sich enorm real an und erinnern an die zahlreichen in den letzten Jahren populär gewordenen YouTube-Videos, bei denen lebensmüde junge Menschen irrsinnig gefährliche Dinge tun. Man hat tatsächlich lange Zeit Gefühl, das hier alles passieren kann und niemand sicher, weshalb sich die Spannungsmomente als überaus effektiv erweisen. Das Filmemacher-Duo beweist außerdem ein herausragendes Gespür für eine starke und unkonventionelle Bildersprache, die viel mit Neonlicht arbeitet. Den Anspruch, New York City so echt wie möglich zu portraitieren, in dem man an zahlreichen Originalschauplätzen gedreht hat, zahlt sich mit einem starken Gefühl für die Metropole aus, wie man es heute nur noch selten zu sehen bekommt. Intensiviert werden die rauschartigen Eindrücke schließlich durch einen starken Soundtrack, der nicht nur von Rob Simonsens pulsierendem elektronischen Score, sondern auch von einer eklektischen Song-Auswahl von Roy Orbison über den Wu-Tang Clan bis zu BØRNS angetrieben wird. „Nerve“ stellt moderne Schnelllebigkeit und Reizüberflutung spürbar dar, macht Spaß, hält einer rastlosen Generation aber auch kritisch den Spiegel vor.

Was den Film jedoch letztlich herunterzieht, ist sein sehr holpriges Finale. Hier gingen Joost und Schulman scheinbar etwas die Ideen aus und während man zuvor dank der rasanten Erzählung kaum über Logiklöcher nachdenken konnte, werden sie spätestens jetzt schmerzhaft deutlich. An dieser Stelle soll nicht zu viel verraten werden, aber das Ende wirkt zum einen überspitzt und damit zu unglaubwürdig, zum anderen mangelt es dann aber auch einer zufriedenstellenden und schlüssigen Auflösung. „Nerve“ wirkt letztlich nicht ganz fertig erzählt und schreit förmlich nach einer Fortsetzung. Die Ambition dieses offenen und zudem leicht moralisierenden Endes mag tatsächlich eine andere gewesen sein, dennoch hinterlässt der Film keinen beklemmenden, sondern einen eher unbefriedigenden Nachgeschmack. Anders ging da Jeanne Ryans Romanvorlage vor, die nicht nur ausführlicher, sondern auch düsterer ist.

Nerve - Dave Franco
Nerve – Dave Franco – © STUDIOCANAL GmbH

Dennoch, „Nerve“ ist für den Großteil seiner Laufzeit überraschend adrenalinreich und aufregend inszeniert, womit sich der Film hervorragend als spannender Thriller für Zwischendurch eignet. Über allem liegt zusätzlich ein provokanter Hintergedanke über eine durchaus vorstellbare Dystopie, die überaus stimulierend, aber auch beängstigend in erfindungsreiche Hochglanzbilder verpackt wird. Schade, dass man die hohe Qualität nicht ganz bis zum Schluss durchgezogen hat, denn dann wäre „Nerve“ nicht nur ein guter, sondern ein herausragender Film geworden.

Bild:

Insgesamt ist die visuelle Umsetzung von „Nerve“ sicher einer seiner besten Aspekte. Entsprechend hochwertig zeigt sich das meist kristallklare und enorm detailreiche Bild auf der Blu-ray. Der Großteil des Films wurde digital auf Arri Alexa aufgezeichnet und sieht fabelhaft aus. Neben der sehr hohen Schärfe erweisen sich auch Kontraste und Schwarzwerte als hervorragend. Die zahlreichen intensiven Neonfarben kommen großartig zur Geltung, überhaupt ist die Farbpalette von „Nerve“ überaus facettenreich. Die Szenen, die mal außerhalb von neondurchfluteten Sets spielen erfreuen auch durch ihre harmonische Natürlichkeit. Leichte Abzüge gibt es durch gelegentliches digitales Rauschen, was teilweise sicher ein gewollter Effekt ist, da auch der visuelle Eindruck von Handycams etc. erzeugt werden soll. Ansonsten eine tolle visuelle Präsentation.

Ton:

Die akustische Umsetzung von „Nerve“ ist fulminant. Über die gesamte Laufzeit des Films wird der Zuschauer durch ständig aktive Surround-Lautsprecher beschallt und entsprechend vom Geschehen eingenommen. Sowohl die Filmmusik als auch zahlreiche Soundeffekte und atmosphärische Geräusche füttern die umliegenden Boxen differenziert. Auch der Subwoofer darf an manchen Stellen druckvoll zur Geltung kommen. Ansonsten ist die Tonspur kristallklar und auf technisch höchstem Standard, auch was Verständlichkeit von Stimmen angeht.

Nerve - Emily Meade
Nerve – Emily Meade – © STUDIOCANAL GmbH

Extras:

Nicht nur die technische Umsetzung, sondern auch das abwechslungsreiche und informative Bonusmaterial überzeugt. Das Herzstück der Extras ist sicher das überraschend ausführliche fast halbstündige Making of „Creating Nerve“. Hier geht man mit einem hintergründigen Blick in die Entstehung zu „Nerve“ über das übliche EPK-Material hinaus. Kurz und bündig kommt das deutsch übersetzte Kurz-Making of daher, die Outtakes kann man sich jedoch eher schenken. Hinter „New York Governors Ball“ verbirgt sich eine Mini-Featurette, die eine Promoaktion bei besagtem Musikfestival darstellt, wo tatsächlich „Nerve“ gespielt wird – allerdings in bedeutend harmloserer, aber dennoch amüsanter Variante. Das satirische Element des Films geht hier natürlich flöten.
Neben diversen Trailern geht man beim restlichen Bonusmaterial passenderweise interaktiv vor: Hinter der Rubrik „Player“ kann man tatsächlich mit einem Freund ein paar Runden „Nerve“ spielen – erneut natürlich völlig harmlos, aber sicher unter Umständen ganz spaßig. Darüber hinaus gibt es noch einen Test, durch den man sich durchklicken kann, um am Ende zu erfahren, ob man eher Typ Watcher oder Player ist. Insgesamt gutes und kurzweiliges Bonusmaterial also.
Creating Nerve (25:09 Min.)
Making of (04:03 Min.)
Outtakes (02:46 Min.)
New York Governors Ball (02:44 Min.)
Trailer (02:26 Min.)
Discover (Hüter der Erinnerung, We Are Your Friends, The Royals – Staffel 1, Atemlos – Gefährliche Wahrheit, Das Leuchten der Stille)
Do You Have the Nerve?
Bist Du ein Watcher oder Player?

Blu-ray Wertung
  • 7.5/10
    Film - 7.5/10
  • 8.5/10
    Bild - 8.5/10
  • 10/10
    Ton - 10/10
  • 7/10
    Extras - 7/10
8/10

Fazit:

„Nerve“ ist ein erstaunlich aufregender und energiegeladener Action-Thriller, der den Zuschauer für den Großteil seiner Laufzeit in den Bann zieht. Das liegt zum einen an dem rasanten Erzählrhythmus, aber auch an den außergewöhnlichen audiovisuellen Eindrucken und den hervorragend harmonierenden Hauptdarstellern. Schade, dass das Ende dann so holprig ist und die Logiklöcher des auch thematisch faszinierenden Films so gnadenlos entlarvt.


von Florian Hoffmann

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. (Kommentar wird erst geprüft)


*