Mike Leigh Edition – Kritik zu Blu-ray-Box

Mike Leigh Edition
Mike Leigh Edition © Studiocanal

Die Kritik:

Mike Leigh Edition
Mike Leigh Edition © Studiocanal

Mike Leigh ist ein siebenfach Oscar-nominierter Regisseur. Der Arthaus-Spezialist fand seine Haupt-Nische in Dramen, die die britischen Schichten unter die Lupe nehmen. Am 25.11.2021 erschien nun das erste Mal in Deutschland eine Sammlung seiner Filme. Alle seiner aktuell 13 Spielfilme, die bis ins Jahr 1971 zurückgereicht hätten, haben es nicht auf die „Mike Leigh Edition“ geschafft – dafür fünf ausgewählte Hochkaräter. Das sind Lügen und Geheimnisse von 1996, All or Nothing von 2002,  Vera Drake aus dem Jahr 2004,  Another Year von 2010 sowie Mr. Turner aus dem Jahr 2014.

Leighs Filme ähneln sich in vielerlei Weise, auch wenn sich der Inhalt ganz verschieden liest. Immer dabei sind interessante Charakterzeichnungen bei allen Figuren, die lebensnah und vielfältig, mal herzlich und mal mürrisch, witzig, überdreht oder deprimiert sind. Typisch ist dabei eine leichte Überzeichnung. Die Chemie zwischen den Figuren stimmt immer. Gleichzeitig werden Geschlechterrollen in gewissen Situationen aufgedeckt. Dabei will der Regisseur kein Schlüsse ziehen, sondern vielmehr stellt er Fragen, deren Antworten der Zuschauer sich selbst beantworten soll – ein weiteres Merkmal, dass Mike Leigh in seinen Filmen herausstellt. Werfen nun einen Blick auf die einzelnen Filme.

Lügen und Geheimnisse

Lügen und Geheimnisse von 1996, All or Nothing von 2002
Lügen und Geheimnisse von 1996 und All or Nothing von 2002 © Studiocanal

Hortense (Marianne Jean-Baptiste) ist eine junge schwarze Frau, die adoptiert wurde. Als sie nach ihrer leibliche Mutter sucht, findet sie die frustrierte, weiße Fabrikarbeiterin (Brenda Blethyn) vor. Kann das ihre Erzeugerin sein? Doch so unterschiedlich sie auch sind, irgendwie verstehen sie sich immer besser.

Leighs erster Film aus dieser Ausgabe startet mit dessen Faible für unterschiedliche Schichten und Milieustudien. Er selber ist in einem Arbeiterviertel aufgewachsen. Der Film ist relativ locker, manchmal auch satirisch und dabei grandios gespielt, was preisgekrönt wurde. Das 25 Jahre alte Drama hat auch heute noch nichts von seiner Aktualität verloren. Während der stolzen 142 Minuten hat der Streifen allerdings auch ein paar Längen, zumindest solange man sich nicht komplett in die Geschichte hineinversetzen kann.

All or Nothing

Leigh beobachtet weiter eher die britische Unterschicht. Eine Arbeiterfamilie ohne Antrieb mit Kindern, die Gefahr zu laufen, genauso zu werden wie der Vater. Tochter Rahel putzt in einem Altersheim, der übergewichtige Sohn Rory hängt nur vor dem Fernseher.

Der Regisseur perfektioniert den Blick auf ein Milieu, das in erster Linie abstoßend und aggressiv wirkt. Doch er blickt tiefer in die Seelen und das ganz ohne Kitsch. Sein tragikomischer Film bleibt bei aller Tristesse ein Streifen über die Liebe und Hoffnung, die in jedem Leben existieren. Man muss sich nur trauen, diese auch zuzulassen.

Vera Drake

Die hierfür Oscar-nominierte Imelda Staunton spielt die titelgebende Frau, die in den 50ern Ehefrau und Mutter zweier Kinder ist. Zusätzlich führt sie ein Doppelleben, wenn sie heimlich sanfte Abtreibung bei Frauen vornimmt. Damals alles andere als normal…

Bei aller Aktualität um das Thema von Abtreibungen bleibt Vera Drake ein eher unpo­li­ti­sches Drama. Die Protagonistin ist schlicht eine helfende Hand ohne auf Konsequenzen zu achten. Sie weiß nicht mal richtig, das sie illegal handelt. Das eigene Handeln wird nicht in Frage gestellt, weil es doch das richtige ist oder? Wie so häufig stellt Leigh Fragen, auf die er keine direkte Antwort liefert. Der Zuschauer darf selbst entscheiden.

Vera Drake aus dem Jahr 2004, Another Year von 2010 sowie Mr. Turner aus dem Jahr 2014
Vera Drake aus dem Jahr 2004, Another Year von 2010 sowie Mr. Turner aus dem Jahr 2014 © Studiocanal

Another Year

Hier lernen wir das Ehepaar Gerri (Ruth Sheen) Tom (Jim Broadbent) kennen. Sie sind der einfache, aber glückliche Mittelpunkt neben einer Hülle an Nebenfiguren, die sich mit kleineren oder größeren Problemen rumschlagen. Die beinahe perfekt wirkenden Eheleute geben ihren Freunden Tipps und Obdach, wenn ihre Besucher zu viel getrunken haben, doch tatsächlich unter die Arme greifen auch die Gutmenschen ihnen nicht. Niemand ist hier perfekt.

Die Fröhlichkeit, wenn sie denn mal da ist, ist eher kurzer oder aber manischer Natur wie bei Mary (Lesley Manville). Ihre Probleme werden ein ums andere mal aufgedeckt, doch Gerri, die sogar Therapeutin ist, kann oder will die zugegeben anstrengende Person nicht nachhaltig unterstützen. Auf der anderen Seite ist Toms alter Kumpel Ken (Peter Wight), der sein Dasein fristet und dem auch nicht richtig geholfen werden kann. Dass diese beiden verlorenen Seelen sich gegenseitig finden, ist die Hoffnung bis zum letzten Drittel. Das Drama endet schließlich deprimierender als es vielleicht müsste – aber auch das ist Mike Leigh.

Mr. Turner

Wir lernen den kauzigen Maler William Turner (Timothy Spall) um 1825 kennen. Er hat ein aufregendes Leben, ist erfolgreich und nicht gerade arm (wie so viele andere zeitgenössische Künstler dieser Zeit zu Lebzeiten). Er ist alles andere als diplomatisch und mit seinem eigenwilligen Verhalten stößt Turner viele vor den Kopf. Auch im Privatleben ist der Umgang mit dem Maler überaus schwierig.

Leigh zeigt hier ein recht neues Spektrum seines Könnens. Ein Künstlerporträt, das nicht in ärmlichen Verhältnissen spielt? Kann das gut gehen? Kann es: Der ruhige Film ist eine sehr runde Sache – eigenwillig mit Bildern in denen Turners Leben in die Kunst übergeht. Ein ganz interessantes, selten gesehenes ruhiges Spektakel – sicherlich wieder nicht für den durchschnittlichen Filmgucker, aber für jeden Arthaus-Fan absolut empfehlenswert.

Bild:

Die fünf Blu-rays haben überzeugende Bildqualitäten. Verständlicherweise können die neueren Filme noch etwas mehr überzeugen. Die Kamera ist immer nah an den Personen dran, Actionszenen gibt es in den Dramen bzw. Tragikomödien selbstredend keine.

Ton:

Die Dialoge sind ein Herzstück von Leighs Filmen. Diese reichen von mürrisch, witzig bis überdreht und sind dabei immer lebensnah. Auch wenn scheinbar gerade keinen wichtigen Gespräche geführt werden, gibt es bei Leighs Filmen immer etwas herauszuhören. Der Soundtrack ist auch ein wichtiger Bestandteil und untermalt auf emotionale Ebene die Dramen.

Extras:

Das Bonusmaterial fällt sehr üppig bei den fünf Streifen aus und bietet massenhaft Interviews, Featurettes, Audiokommentar oder B-Rolls zu fast allen Filmen.

Blu-ray Wertung
  • 7/10
    Lügen und Geheimnisse - 7/10
  • 6/10
    All or Nothing - 6/10
  • 8/10
    Vera Drake - 8/10
  • 9/10
    Another Year - 9/10
  • 7/10
    Mr. Turner - 7/10
  • 8/10
    Bild - 8/10
  • 8/10
    Ton - 8/10
  • 7/10
    Extras - 7/10
7.5/10

Kurzfassung

Tolle Arthaus-Filme eines trotz zahlreicher Hochkaräter noch unterschätzten Regisseurs.

Fazit:

Der perfektionistische Filmdreher plant bis ins kleinste Detail – Improvisierung nutzt er dabei nicht. Dass die Rollen dennoch so lebendig wirken, liegt an eben jener Detailbesessenheit und Kleinigkeit, die das Bild aber abrunden und nicht zuletzt an herausragenden Darstellern. Eine würdige Veröffentlichung von fünf seiner besten Filme!


von Nicolas Wenger

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