Elle – Blu-ray Kritik: Frei von Political Correctness

Elle - Michèle (Isabelle Huppert) mit ihrer Katze
Elle - Michèle (Isabelle Huppert) mit ihrer Katze © MFA+ FilmDistribution

Die Kritik:

Elle Blu-ray Cover
Elle Blu-ray Cover © MFA+ FilmDistribution

In den Achtziger- und Neunziger-Jahren war der niederländische Kinoprovokateur Paul Verhoeven – so erstaunlich das auch in dieser oft ecken- und kantenlosen Mainstream-Kinolandschaft der Gegenwart erscheint – eine feste Größe im Hollywood-Kino. Blockbuster wie „RoboCop“, „Total Recall“, „Basic Instinct“ oder „Starship Troopers“ waren einzigartig subversive, oft satirische und bitterböse Genrefilme voller Sex- und Gewaltexzesse, die keine Angst vor fehlender Political Correctness hatten. Ganze zehn Jahre ist es nun schon her, seit Verhoeven mit dem unterschätzten Nazi-Widerstandskämpferfilm „Black Book“ seinen letzten abendfüllenden Spielfilm ablieferte. Beinahe wäre sein neuester und überaus willkommener Streich Elle sein US-Comeback geworden, doch leider erschien David Birkes Drehbuch zu riskant für einige von Hollywoods Schauspielgrößen, die eine Mitwirkung ablehnten. Gottseidank muss man sagen, denn mit der furchtlosen französischen Kino-Göttin Isabelle Huppert fand sich wohl die perfekte Wahl für die Hauptrolle im 16. Film des nun 78-jährigen Filmemachers. Huppert liefert in dieser überaus ungewöhnlichen und provokanten Rolle eines Vergewaltigungsopfers eine meisterhafte schauspielerische Leistung, eine mutige Tour de Force, von der man die Augen nicht nehmen kann. Sie ist das hochkomplexe Zentrum dieses schwierigen und unvorhersehbaren Films, der seit seiner gefeierten Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes für viele Diskussionen sorgte. Für ihre Darstellung wurde Huppert mit zahlreichen Preisen bedacht, unter anderem mit einem Golden Globe und schließlich einer Oscar-Nominierung.

„Elle“ beginnt denkbar unbequem und macht dem Zuschauer unmissverständlich deutlich, dass er sich auf einen wilden Ritt gefasst machen muss. Die Videospiel-Firmenchefin Michèle Leblanc (Isabelle Huppert) wird am helllichten Tag in ihrem eigenen Pariser Haus von einem maskierten Mann brutal überfallen und vergewaltigt. Verhoeven inszeniert diese schockierende Tat in denkbar kompromisslosen und realistischen Bildern, die unter die Haut gehen. Diese harten Momente werden immer wieder im Verlauf des teilweise fragmentarisch erzählten Films aufgegriffen. Wer jetzt einen herkömmlichen Plot erwartet, bei dem das Opfer traumatisiert zurückbleibt, zur Polizei rennt und Anzeige erstattet und sich bei Freunden ausheult und vielleicht sogar Rache schwört, wird überrascht werden, denn „Elle“ ist ein durchweg unvorhersehbarer Film, der konstant mit der Erwartungshaltung des Zuschauers spielt. Michèle bleibt nach dem Angriff tatsächlich relativ gefasst, ein Trauma ist nicht ansatzweise zu erkennen, sie räumt erst mal auf, nimmt ein Bad und ordert Sushi. Später geht sie zwar zum Arzt, doch eben nicht zur Polizei. Sie führt ihr Leben letztlich weiter wie gehabt, versucht aber herauszufinden, wer für die Tat verantwortlich ist. Ist es ihr zwielichtiger Mitarbeiter Kurt (Lucas Prisor), zu dem sie ein angespanntes Verhältnis führt? Was führt ihr geheimnisvoller Macho-Nachbar und Börsenmakler Patrick (Laurent Lafitte) im Schilde, der mit der bibeltreuen Rebecca (Virginie Efira) verheiratet ist? Oder hat sogar ihr Ex-Mann Richard (Charles Berling) mit der Tat zu tun, mit dem sie eigentlich eine entspannte Beziehung führt? Und wer ist für die grässliche Rundmail in ihrer Firma verantwortlich, die eine krude Animation aus ihrem Spiel zeigt, bei der Michèle von einem Monster vergewaltigt wird?

Elle - Robert (Christian Berkel) und Michèle (Isabelle Huppert)
Elle – Robert (Christian Berkel) und Michèle (Isabelle Huppert) © MFA+ FilmDistribution

Verhoeven nimmt das Leben und den Alltag von Michèle hier in für ihn ungewöhnlich naturalistischen Bildern unter die Lupe, zerlegt es nach und nach und gibt immer mehr Informationen zu ihren Hintergründen preis (die hier nicht gespoilert werden). Er erforscht die Beziehungen zu Michèles Bekanntschaften, darunter auch zu ihrem schwachbrüstigen Sohn Vincent (Jonas Bloquet), der unter der Fittiche seiner dominanten und lieblosen Freundin Josie (Alice Isaaz) steht und ein Kind von ihr erwartet. Dann ist da auch noch ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Anna (Anne Consigny) und ihr Ehemann Robert (Christian Berkel), zu denen Michèle eine enge Beziehung führt. Und schließlich wäre da noch Michèles schrille Mutter Irène (Judith Magre), die sich gerade mit einem nicht mal halb so alten Liebhaber einlässt. Verhoeven beobachtet all diese Personengeflechte und formt dabei ein hochkomplexes und facettenreiches Portrait einer unendlich willensstarken Frau, die alles und jeden in ihrer Umgebung zu jedem Zeitpunkt in absoluter Kontrolle hat, die sich nicht den gesellschaftlich festgelegten Codes unterordnet und ihren eigenen Weg geht.

Verhoeven und Birke sind nicht ansatzweise daran interessiert, ihre Figuren und ihr Handeln zu erklären. Herkömmliche, den Zuschauer an die Hand nehmende Erzählmechanismen finden sich hier bewusst nicht, die Protagonistin ist, wer sie ist und macht keinen aufgesetzten charakterlichen Wandel durch, der zu einer simplen, möglicherweise vereinfachenden und damit unehrlichen Katharsis führt. „Elle“ ist in seiner weitreichend interpretierbaren Ambivalenz so sicher oft ein sehr unbequemer Film, da er auch nicht gewillt ist, seine Hauptfigur künstlich sympathisch zu machen, er ist so komplex wie das Leben selbst, lässt sich in keine vorgefertigte Genre-Schublade einordnen. Verhoeven zeigt hier eine unglaublich komplizierte und sehr häufig scheinbar völlig irrational handelnde Frau, jedoch bietet er keine Antworten für ihr Verhalten. Der Zuschauer muss so selbst aktiv werden, um sich in den Verstand dieser Figur hineinzulesen, was sich als unglaublich spannende und facettenreiche Filmerfahrung entpuppt. Das lässt sehr viel Diskussionsstoff zu und die Analyse von Michèle sollte sicher für jeden Psychologen ein gefundenes Fressen sein.

Elle - Michèle (Isabelle Huppert) sucht nach ihrem Peiniger
Elle – Michèle (Isabelle Huppert) sucht nach ihrem Peiniger © MFA+ FilmDistribution

Aber auch bezüglich der anderen Figuren eignet sich „Elle“ zu ausführlichen Analysen: Die Männer scheinen in „Elle“ grundsätzlich als eher schwach oder verabscheuenswürdig dargestellt zu sein, die Frauen sind in einer stärkeren, unabhängigeren und machtvolleren Position. Gerade als feministisches Manifest eignet sich Verhoevens Film möglicherweise hervorragend, denn Michèle lässt sich hier zu keinem Zeitpunkt in eine Opferrolle drängen, sie kontrolliert ihr eigenes Schicksal mit eiserner und von allen anderen Menschen befreiter Hand. Hier wird eine selten starke Frau portraitiert, die mit erstaunlich unaufgeregtem und selbstverständlichem Selbstbewusstsein agiert. Dabei hat Michèle ständig allen Grund in eine Opferrolle gesteckt zu werden, sie wurde vergewaltigt, steht immer wieder durch ihren (sich nach und nach offenbarenden) familiären Hintergrund im öffentlichen Licht und muss sich ständig damit Herausforderungen stellen. So ist „Elle“ ein selten erfrischender Film, der Political Correctness mit Gusto aus dem Fenster wirft, dabei aber ein überaus starkes Testament für freien Willen und feminine Selbstbestimmung darstellt, aber auch nie wirklich eine allgemeingültige Aussage machen will. Viel mehr ist „Elle“ das Portrait einer ganz bestimmten, oft unerklärlichen Frau, die nie so handelt, wie man es in konventionelleren Filmen erwarten würde.

Verhoeven vermeidet es auf meisterhafte Art jemals durchschaubar zu sein oder sich in Klischees festzufahren, wodurch der Film stets überraschend und unvorhersehbar bleibt. Mal ist „Elle“ schockierend und verstörend, dann ist er fast im selben Atemzug aber auch wieder auf sehr schwarzhumorige Weise komisch und gallig ironisch. So lässt sich der Film nie festlegen, was aus „Elle“ eine sehr anspruchsvolle und herausfordernde Erfahrung macht, die sich so fast nahtlos in Verhoevens faszinierendes und oft missverstandenes Œuvre eingliedert. In vielerlei Hinsicht ist „Elle“ so ein radikales, von sämtlichen Konventionen befreites Werk, über das noch lange diskutiert werden wird.

Bild:

Das digital aufgezeichnete Bild von „Elle“ überzeugt primär durch seine Natürlichkeit und Sauberkeit. Hier dominiert eine natürliche und dezente Farbpalette, die eher in Richtung erdige Töne geht. Kontraste und Schwarzwerte sind absolut solide, auch wenn in manchen dunklen Bereichen Details leicht untergehen können. Ansonsten ist der Schärfe- und Detailumfang sehr gut, wenn auch nicht spektakulär. Bildfehler bleiben hier dankbarerweise aus.

Ton:

Elle - Michèle (Isabelle Huppert) führt ihr Leben letztlich weiter wie gehabt
Elle – Michèle (Isabelle Huppert) führt ihr Leben letztlich weiter wie gehabt © MFA+ FilmDistribution

Primär ist „Elle“ ein dialogbasierter Film, entsprechend gestaltet sich die akustische Gestaltung eher frontlastig. Dialoge und Stimmen sind hervorragend verständlich in beiden Sprachfassungen abgemischt. Die hinteren Boxen werden in regelmäßigen mit der Filmmusik von Anne Dudley bespielt, gelegentlich kommen hier auch recht subtile atmosphärische Geräusche zum Einsatz. An den entsprechenden Stellen erfreut die Tonspur aber auch durch hohe Dynamik und überzeugende Tieftöne, auch wenn diese eher selten vorkommen.

Extras:

An Bonusmaterial hat man hier unverständlicherweise leider gespart und beschert lediglich eine Handvoll Trailer.
Trailer (01:51 Min.)
Trailershow (Maps to the Stars (02:06 Min.), Louder than Bombs (02:20 Min.), Antichrist (02:01 Min.), I Am Love (02:09 Min.))

Blu-ray Wertung
  • 8.5/10
    Film - 8.5/10
  • 8/10
    Bild - 8/10
  • 8.5/10
    Ton - 8.5/10
  • 0.5/10
    Extras - 0.5/10
8.5/10

Kurzfassung

Ein selten erfrischender, provokanter und psychologisch komplexer Film, der frei von Political Correctness ist und ein überaus starkes Testament für freien Willen und feminine Selbstbestimmung darstellt.

Fazit:

„Elle“ ist ein faszinierend komplexes, facettenreiches und kompromissloses Portrait einer oft unerklärlichen und willensstarken Frau, die eisern ihren Weg geht und immer in völliger Kontrolle bleibt. Paul Verhoevens genüsslich provokativer, unvorhersehbarer und reifer Film, der Political Correctness genüsslich aus dem Fenster wirft, wird noch lange für viele Diskussionen sorgen.

Der Film gehört zu dem Besten, was das französische Kino zu bieten hat. Lest hier weitere hervorragende Filme aus Frankreich.


von Florian Hoffmann

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