Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo – Blu-ray Kritik

Christiane F. - Szenenbild
Christiane F. - Szenenbild © Eurovideo

Die Kritik:

Gut 40 Jahre nach ihrer Premiere in Berlin und ein knappes Jahrzehnt nach der letzten Veröffentlichung auf Blu-Ray verpasst EuroVideo der tragischen Geschichte um Christiane Felscherinow eine visuelle Rundumbehandlung, an der Fans dieses Urgesteins des deutschen Exploitationfilms ihre Freude haben werden. Beruhend auf den wahren Erlebnissen einer 14-jährigen, deren Höllensturz in das Berliner Drogen- und Kinderprostitutionsmilieu Ende der 1970er Jahre von zwei Stern-Journalisten publik gemacht wurde, darf Christiane F – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo zurecht als kompromissloser Vorreiter und Inspiration für Gerne-Ikonen wie Trainspotting (1991) und Requiem for a Dream (2001) gelten.

Christiane F. - Blu-ray
Christiane F. – Blu-ray © Eurovideo

Die Geschichte um Christiane F. ist heute Teil des kollektiven deutschen Gedächtnisses der Nachkriegsgeneration. Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gab es praktisch kein Vorbeikommen am Leben der Christiane F.: Tonbandaufnahmen, Buchveröffentlichungen, Interviews, Filmdrehs – das Berliner Drogenmilieu und der Kinderstrich auf dem Kurfürstendamm oder hinter dem Bahnhof Zoo waren nach Jahren der sträflichen Vernachlässigung durch Medien, Justiz, Gesellschaft und Sozialsystem plötzlich der Gesprächsstoff einer ganzen Nation. Christiane F. und die anderen kindlichen Renegaten um den Bahnhof Zoo wurden im Zuge dessen durch einen medialen Fleischwolf gedreht, der rückblickend vermutlich mehr Ausbeutung als Unterstützung war. Halb Deutschland schaute fortan zu, ob/ und wie lange Christiane F. bis zu ihrem nächsten Rückfall clean blieben würde. Trotz dieser kommerziellen und sensationalistischen Auswüchse der Affäre warf das plötzliche öffentliche Interesse an der Bahnhof-Clique und dem Milieu, das sie repräsentierten, erfolgreich Licht auf einen der schmutzigsten Flecken deutscher Nachkriegsgeschichte.

Damit kommen wir auch schon zu dem großen Kritikpunkt an Christiane F – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo – so wie er mitunter auch schon vor 40 Jahren formuliert wurde. Der Zuschauer nimmt eine zutiefst voyeuristische Rolle ein, die Motive der Protagonistinnen und Protagonisten bleiben vage und ohne Tiefgang, häufig wirken die Figuren wie Schablonen dessen, was sich jemand von der Stadtverwaltung unter einer Drogenkarriere vorstellt – es ist staubtrocken, konservativ und vor allem eine starke und ausbeuterische Raffung der komplexen Lebensgeschichten und Umstände, die einen jungen Menschen zur Nadel greifen lassen. In Christiane F – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo sind es scheinbar Neugierde, Liebeskummer und die Plattenbausiedlung Gropiusstadt, die Heroinsüchtige formen. Ob diese Bilder tatsächlich zur Destigmatisierung der Berliner/ deutschen Drogenszene beigetragen haben oder nicht letztendlich bestehende, in der deutschen Gesellschaft vorherrschende, stereotype Narrative vom Drogenmilieu noch verfestigten, sei dahingestellt. Irgendwie scheint es auch egal, warum die Kinder/ Jugendlichen (und das muss man dem Film lassen, hier spielen tatsächlich Kinder Kinder, und das trägt maßgeblich zu dem Schockwert bei – 1995 wird dieses Konzept in Kids ebenfalls sehr eindrucksvoll umgesetzt) sich selbst so maßlos zerstören. Denn statt aufzuklären, soll der Film augenscheinlich vor allem abschrecken. Indem er diese schulmeisterliche Position einnimmt, verliert er leider viel von seiner so beeindruckend, durch die abgeranzten Berliner Kulissen aufgebauten Authentizität. Hier hätte Regisseur Ulrich Edel seinen Zuschauern ruhig etwas mehr zutrauen können, seine Figuren nuancenreicher und den Trip in die Hölle als das zeigen, was er wirklich ist: ein Grauen, das niemand verdient und jeden treffen kann. Stattdessen bleiben die Motive der Figuren undurchsichtig, der Fokus liegt viel weniger auf dem Weg zur Droge als bei dem Konsum und seinem Folgen.

Christiane F. - Szenenbild
Christiane F. – Szenenbild © Eurovideo

Dieser exploitative Charakter des Films muss jedoch auch in seinem zeitlichen Kontext betrachtet werden. In den 70er Jahren waren das Verständnis von Suchtkarrieren und die Drogenprävention noch in den Kinderschuhen. Dass die Lebensrealitäten des Drogenmilieus nunmehr einen Platz im gesellschaftlichen Diskurs fanden und mannigfaltige Auseinandersetzungen mit dem Thema anregten, war bereits ein großer Schritt für die gesellschaftliche Wahrnehmung und den Umgang mit der Szene, an dem der Film auch maßgeblich beteiligt war. Christiane F – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ist damit ein bedeutendes Stück deutscher Zeitgeschichte – filmisch wie gesellschaftlich. Positiv anzumerken ist auch wie der Film auf herausragende Weise die völlige soziale Isolation und Ausweglosigkeit seiner Figuren einfängt. Erwachsene sind kaum präsent in diesem Film und wenn doch, dann nur als passive Zuschauer oder Täter, nie aber in der Rolle potenzieller Helfer. Ganze Clubs voller drogenkonsumierender Kinder werden gezeigt, mit keinem einzigen Erwachsenen in Sicht, und in dieser oberflächlich betrachten fatalistischen Überzeichnung einer juvenilen Drogenszene, entschält sich doch auf beinahe surreale Weise ein Gefühl von kindlicher Einsamkeit, das sich jeglicher erschöpfenden Erklärung entzieht. Das prä-digitale Berlin in seinem ganzen Schmodder, Pädophile, die wie Geier um zugedröhnte Kinder kreisen, eine Abwärtsspirale, aus der es ein Entkommen zu geben scheint – all das zieht sich wie ein tödlicher Gestank durch diesen Film, an dessen Ende vor allem ein erschütterndes Gefühl von Hilflosigkeit bleibt – nicht jedoch in Anbetracht der Hauptfiguren, sondern vielmehr einer Gesellschaft, die ihren Schwächsten mit einer tödlichen Apathie begegnet.

Christiane F. - Szenenbild
Christiane F. – Szenenbild © Eurovideo

Nicht minder erschütternd sind die Konsum- und Entzugsszenen, die es auch nach 40 Jahren allemal mit der gegenwärtigen Staffel von Euphoria aufnehmen können und in denen der Suchtdrück der Figuren für den Zuschauer beinahe spürbar wird. Der Soundtrack von David Bowie fangt Zeitgeist und Drogenrausch in teils beklemmenden und teils adrenalingeladenen Klängen ein.

Bild:

Die 4K-Abtastung führt nochmal zu einer deutlichen Qualitätsverbesserung der ursprünglichen 16mm-Aufnahmen. Im Vergleich zu der letzten Veröffentlichung aus dem Jahr 2012 wurden zahlreiche Schutzpartikel und Körnungen (insbesondere bei dunkleren Aufnahmen) ausgebessert. Die vormals sehr weichen (bis verschwommenen) und teilweise überbeleuchten Bildern wurde durch eine konsistentere Körnung, satte Kontraste und kräftige Farbtöne aufgewertet. Mehr kann man aus einer 40 Jahre alten Independent-Produktion kaum herausholen.

Ton:

Es gibt zwei Tonspuren Ton in 2.0 Mono und einem Surroundmix in 5.1 mit DTS-HD-Master-Kodierung. Im 2.0 Mono klingen die Stimmen der Figuren 2.0 Mono mitunter etwas blechern, dafür leidet unter 5.1 mit DTS-HD-Master-Kodierung die Musik Bowies. Hier wäre vielleicht noch mehr möglich gewesen.

Extras:

Neben dem Hauptfilm gibt es zwei bisher unveröffentlichte Extras: Einen Audiokommentar vom Regisseur und ein umfangreiches Interview mit der mittlerweile selbst als Drehbuchautorin und Produzentin tätigen Hauptdarstellerin Natja Brunckhorst. Insbesondere die Ausführungen von Regisseur Edel sind mit Blick auf Zerwürfnisse zu Beginn des Filmprojektes mit dem ursprünglich vorgesehenen Regisseur Roland Klick sehr interessant.

Blu-ray Wertung
  • 7/10
    Film - 7/10
  • 8/10
    Bild - 8/10
  • 8/10
    Ton - 8/10
  • 7/10
    Extras - 7/10
7.5/10

Kurzfassung

Würdige Neuauflage eines deutschen Klassikers, der von seiner rohen, mitunter exploitativen Kraft nichts verloren hat.

Fazit:

Würdige Neuauflage eines deutschen Klassikers, der von seiner rohen, mitunter exploitativen Kraft nichts verloren hat. Dazu wohl das Beste, was sich aus den alten Bildern herausholen lässt und neue Extras, die die Herzen der Fans von Christiane F. höher schlagen lassen werden.


von Jan Niklas Breuer

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