Céline Sciamma Boxset – Die gesamte Filmographie in einer Box

Céline Sciamma Boxset - Artwork
Céline Sciamma Boxset - Artwork © Alamode Film

Die Kritik:

Spätestens nach „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ konnte sich die französische Regisseurin Céline Sciamma mit ihrer bewegenden Arbeit weltweit einen Namen machen. Seit jeher setzt sie sich für Gleichberechtigung aller Geschlechter, Sexualitäten und Herkünfte ein und lässt das in ihre Filme mit einfließen. Nun ist eine Edition erhältlich, welche alle ihre bisherigen fünf Spielfilme enthält. Grund genug, auf die Filme sowie das Boxset einen Blick zu werfen.

Die Filme

Water Lilies (6,5 Punkte)

Mit ihrem Regiedebüt im Jahre 2007 konnte Sciamma direkt erste Erfolge erzielen. „Water Lilies“ gibt eine Kostprobe darauf, wohin sich die Regisseurin entwickelt, und bringt ihre Handschrift ein erstes Mal zum Vorschein.

Marie (Pauline Acquart) ist nach einer Aufführung von Synchronschwimmerinnen sichtlich begeistert von dem Sport. Um der örtlichen Gruppe beitreten zu können muss sie sich noch gedulden, trotzdem möchte sie dem Team Nahe sein und es bei Trainings beobachten. Aus dieser Motivation heraus sucht sie Floriane (Adéle Haenel), eine der Schwimmerinnen mit schlechtem Ruf, auf. Floriane nimmt Marie in die Veranstaltungen der Gruppe mit, jedoch nicht auf freundschaftlicher Basis, sondern erwartet im Gegenzug bestimmte Leistungen. Aus der Bekanntschaft entsteht jedoch eine immer größer werdende Freundschaft.

Mit „Water Lilies“ konnte Sciamma erstmals präsentieren, worin ihre Stärken liegen. Was man hier bekommt ist ein Coming of Age Geschichte im langsamen Tempo. Behandelt werden nahbare Figuren, die mit diversesten Problemen des Erwachsenwerdens konfrontiert werden. Wie zeige ich mich nach Außen und wie gehe ich mit meinen Emotionen um sind dabei ganz zentrale Themen, mit denen sehr einfühlsam umgegangen wird. Pauline Acquart durfte sich als fähige Kinderdarstellerin beweisen, aber auch Adéle Haenel durfte in ihrer Arbeit unter Sciammas Regie ein erstes Mal ihr Talent unter Schau stellen. Der größte Kritikpunkt ist eher ein Kompliment, denn Sie übertrifft sich mit ihren späteren Filmen eindeutig. Sexualität, Selbstfindung und Anders-Sein sind alles Aspekte, die sie in anderen Werken noch umfangreicher ausgearbeitet werden. „Water Lilies“ ist ein gelungener Film und ist mindestens sehenswert, jedoch zählt er nicht zu den Besten der Regisseurin.

Tomboy (7,5 Punkte)

Unter „Tomboys“ versteht man per Definition vorwiegend weibliche Kinder und Jugendliche, die nicht den traditionellen Geschlechterrollen entsprechen und sich eher wie Jungs verhalten. Diese Beschreibung trifft auf Laure (Zoé Héran) zu. Kurz vor dem Antritt in die zweite Klasse zieht sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester in einen fremden Ort. Vor den gleichaltrigen Kindern aus der Nachtbarschaft stellt sie sich als der Junge Michael vor und spinnt sich dadurch in ein immer größer werdendes Lügenkonstrukt. Als Zuschauer ist man dabei den Großteil der Laufzeit lediglich Beobachter, darüber wie sich Laure bzw. Michael in den unterschiedlichen Situationen verhält. Man verfolgt die Figur beim Fußball spielen, schwimmen oder rumalbern in der Gruppe. Zu Hause, wo es noch kein Outing in dem Sinne gab, herrscht aber ebenfalls Harmonie und ein gesundes Familienbild, auch mit der konträren Schwester. Beides würde jedoch durch die Offenlegung der Wahrheit ins Wanken geraten. Und genau darin liegt die Spannung in „Tomboy“.

Céline Sciamma schafft es, eine Figur mit Problemen zu präsentieren, die man selbst nicht durchlebt hat, man aber schnell Empathie empfindet. Die Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt bleibt über die längste Zeit interessant, auch wenn das Tempo zwischenzeitig zum Erliegen kommt. „Tomboy“ ist Alles in Allem ein einfühlsamer Film mit einer starken Schauspielerin in der Hauptrolle, die jedoch für so eine Art von Drama auch notwendig ist. Nach nur 82 Minuten ist die Reise in den kleinen, französischen Ort schon vorbei, vergessen hat man diese aber noch lange nicht.

Das Céline Sciamma Boxset
Das Céline Sciamma Boxset © Thomas Stadler

Mädchenbande (5,5 Punkte)

Auch dieser Film lässt sich wieder als Coming-Of-Age Film kategorisieren. „Mädchenbande“ handelt von Marieme (Karidja Touré), die nicht den Anschluss ins Erwachsenenleben findet. Für die weiterführende Schule sind ihre Noten nicht gut genug, als Putzkraft wie ihre Mutter möchte sie nicht arbeiten und zu Hause wird sie von ihrem Bruder tyrannisiert. Irgendwo in diesem System, in welches sie nicht dazu gehört, freundet sie sich mit einer Bande bestehend aus drei anderen Mädchen an, mit denen sie fortan umherzieht.

„Mädchenbande“ kann weniger zugänglich sein als Sciammas andere Werke. Die persönliche Wahrnehmung bei diesem Film hängt stark davon ab, welche Bindung zu der Protagonistin entsteht. Einige sehen in Marieme bestimmt eine Identifikationsfigur. Anderen wird es schwerfallen, sich emotional mit der Figur zu verbinden, da sie sich immer wieder in verwerfliche Situationen begibt. Zu berücksichtigen ist das soziale Milieu, Überambitionen von Mariem oder der Versuch, gemocht zu werden. Aber sobald sich Marieme wieder in den nächsten Bandenkampf begibt, erneut Dinge stiehlt oder Leute erpresst kann es das einem schwer machen, sich auf die Tragik der Geschichte einzulassen. Sciamma zeigt schwierige Lebensumstände gespickt mit gut geschriebenen Figuren, wenn man zu der Protagonistin aber nicht den Zugang findet, auch wenn sie noch so gut spielt, fällt einem ein Film wie „Mädchenbande“ schwer.

Porträt einer jungen Frau in Flammen (9,5 Punkte)

Diesen Film könnte man in einem Wort beschreiben: perfekt! Das „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ kombiniert Sciammas Stärken und übertrifft sich noch dazu, während das Setting klein bleibt. Die Malerin Marianne (Noémie Merlant) erhält im Jahr 1770 den Auftrag, ein Porträt von Héloïse (Adéle Haenel) zu erstellen. Héloïse ist Tochter einer verwitweten Gräfin und soll schon bald zwangsverheiratet werden, wogegen sie sich strikt weigert. Das Porträt soll den künftigen Bräutigam überreicht werden und die Ehe für endgültig erklären. Mariannes Auftrag ist es, Héloïse auf Spaziergänge zu begleiten und sie anschließend aus dem Gedächtnis malen, um keinen Verdacht auf die Eheschließung zu erregen. Je mehr gemeinsame Zeit die Beiden verbringen, desto näher kommen sie sich.

Das „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ ist ein aufs Wesentliche reduzierter Film, der zu Céline Sciammas größtem Erfolg wurde. Die Geschichte über zwei Frauen, die sich während einer Zeit treffen, in welcher Homosexualität nicht akzeptiert ist, funktioniert auf allen Ebenen. Adéle Haenel spielt nach „Water Lilies“ erneut in einer Hauptrolle unter Sciammas Regie, obwohl die Beziehung der Beiden vor Drehbeginn auseinander ging. Haenel liefert mit ihrem oft melancholischen Gesichtsausdruck eine eindrucksvolle Performance ab, die ihren Zenit in einer der besten Abschlussszenen jemals findet. Ihr Spiel zusammen mit Noémie Merlant lässt einen nicht die Chemie zwischen den Frauen hinterfragen. Beide spielen absolut Weltklasse und verschwimmen regelrecht hinter den Rollen.

Das Drehbuch ist nuanciert, die Kostüme bis aufs letzte Detail ausgefeilt und die Drehorte sowohl authentisch als auch wunderschön. Ohne ewig ins Loben zu geraten sei so viel gesagt: Das „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ ist nochmal deutlich besser, als ähnlich gelagerte Filme wie „Ammonite“ oder auch ein „Call me by your name“ und sollte jeder gesehen haben.

Petite Maman – Als wir Kinder waren (7,5 Punkte)

Sciammas jüngster und zugleich kürzester Spielfilm mit einer Laufzeit von nur 72 Minuten kam Hierzulande im März 2022 in die Kinos. Zentral ist dabei die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz), die mit ihrer Familie das Haus der kürzlich verstorbenen Großmutter räumt. Beim Spielen im Wald entdeckt sie ein gleichaltriges Mädchen namens Marion (Gabrielle Sanz), welches sich als ihre Mutter im Kindesalter herausstellt. Aus dieser Prämisse entwickelt sich eine Geschichte rund um Trost, Verlust und Trauer, ist tonal aber nicht so schwerwiegend wie es scheint, sondern entlässt einen trotz seinen ernsten Themen mit einem wohligem Gefühl. Angesprochen werden dabei verschiedene Altersgruppen, wodurch man als Zuschauer bestimmte Aspekte unterschiedlich gewichtet und daraus seine ganz eigenen Schlüsse zieht.

„Petite Maman“ verschwendet keine Zeit für Exposition rund um Zeitreisen, Wurmlöcher oder die Konsequenzen des Aufeinandertreffens von zwei verschiedenen Zeitebenen. Stattdessen legt Sciamma den Fokus wie so oft auf die Figuren, allen voran den beiden Kindern. Gespielt von dem Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz entwickelt sich eine Freundschaft, die viel tiefer geht als der bloße gemeinsame Zeitvertreib. Beide haben mit erwachsenen Problemen zu kämpfen, trotzdem dürfen sie ihre Kindheit ausleben und präsentieren. Durch das langsame Tempo lässt man sich als Zuschauer von der Geschichte und der gewohnt zurückhaltenden, aber selbstbewussten Inszenierung regelrecht treiben. Im neusten Werk der französischen Regisseurin und Autorin kommt es zu keinem Fortschritt einer Bewegung und zu keiner plötzlichen Einsicht, doch das ist auch nicht der Ansatz. „Petite Maman“ überzeugt durch seine pure Menschlichkeit und dem Mut, auch nach 72 Minuten den Schlussstrich zu ziehen. Erneut ein Film voller Herzlichkeit, Denkanstößen und liebenswerten Figuren, dem man nicht viel ankreiden möchte.

Céline Sciamma Boxset - Inside
Céline Sciamma Boxset – Inside © Thomas Stadler

Boxset Review

Das Erste, was beim Auspacken des Céline Sciamma Boxset auffällt, ist die wertige Schachtel aus dickem Karton. Das Motiv der Vorderseite entstammt aus „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ und ist passend gewählt. Öffnet man die Box springt einem sofort das Booklet in die Augen. In seinen 52 Seiten ist neben diversen Stills aus Sciammas Filmografie ein übersetzter Essay der Autorin Elif Batuman enthalten. Dieser besteht aus einigen Interviews mit Céline Sciamma, setzt sich mit ihren Filmen auseinander, wirft aber auch einen Blick auf die Person selbst. In dem ordentlich langen Text erfährt man zudem einiges über Sciammas Engagement in der LGBTQ Szene, ihren Blick auf die Welt sowie ihre Branche. Insgesamt ein spannendes Booklet, welches nach dem Sichten der Filme tiefere Einblicke gewährt. Die Filme selbst befinden sich in einem Digipack, welches wertiger hätte ausfallen können. Die Discs sind leider nicht mit eigenen Motiven bedruckt, sondern wurden einheitlich gehalten. Neben den Filmen sind zudem einige Interviews enthalten.

Bild:

Im Laufe der Filmographie lässt sich optisch eine Steigerung feststellen, der Fokus liegt aber hauptsächlich auf der Geschichte und den Figuren. Trotzdem bekommt das Auge mehr als das Notwendige geboten. Qualitätstechnisch lässt sich nichts bemängeln.

Ton:

Der enthaltene Ton im Box-Set ist etwas komplizierter. Generell ist auf allen Discs die originale, französische Tonspur mit deutschen Untertiteln enthalten. Lediglich „Tomboy“, „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ und „Petite Maman“ enthalten deutschen Ton, sprich man muss mindestens bei zwei Filmen bereit sein, im Original zu schauen.

Extras:

Als Bonusmaterial gibt neben etlichen Trailern zwei 20-minütige Interviews mit Céline Sciamma zu den Filmen „Petit Maman“ und „Tomboy“. Zu „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ sind auch kurze Interviews mit Darstellern und Regisseurin enthalten. Zusammen mit dem Essay im Booklet bekommt man genug geboten, um sich noch weiter mit den Filmen und den Menschen dahinter zu befassen.

Blu-ray Wertung
  • 8/10
    Film - 8/10
  • 7.5/10
    Bild - 7.5/10
  • 7.5/10
    Ton - 7.5/10
  • 9/10
    Extras - 9/10
8/10

Kurzfassung

Boxset mit sehr besonderen Filmen.

Fazit:

Céline Sciammas Filme sind mehr als einfache Dramen oder Liebesfilme. Bei ihren Werken bekommt man Geschichten über fiktive Personen, die realer nicht sein könnten. Sie schafft es, einem Figuren näher zu bringen, deren Probleme man zwar oft nicht selbst erlebt hat, einen aber trotzdem mitreißen. Wer bisher mit keinen, wenigen oder allen Filmen der französischen Regisseurin in Berührung kam und jetzt endlich die gesamte Filmographie nachholen möchte, der erhält mit dem Céline Sciamma Boxset ein rundes Gesamtpaket, welches für mehrere einzigartige Filmabende sorgen wird.


von Thomas Schoger

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